Buch-Welt-Musik
Medium Rezension
1023
Alexander, Christine
The Oxford Companion to the Brontës
1. Ausgabe
Das Buch ist eine einzige Fundgrube für die Werke der Brontë-Schwestern
Hilfreich in jeder Hinsicht, fasst die Buch die Informationen und Thesen der Sekundärliteratur zusammen, bietet ein umfangreiches Wörterlexikon der Begriffe, Erklärungen zur Geschichte der Zeit, Hintergrundinformationen zu Gesellschaft des Viktorianischen Zeitalters und darüber hinaus, Interpretationsansätze, Querverweise, Informationen zu zeitgenössischen Schriftstellern, und und und - alles, was das Herz begehrt für den, der sich tiefer mit den Werken beschäftigen will.
Einziger Nachteil: Es ist in englischer Sprache. Ohne gute Englisch-Kenntnisse kommt man da nicht weiter. Schade, dass es dieses Buch nicht auf Deutsch gibt - aber dafür ist es wahrscheinlich zu speziell.
Oxford University Press - 2006 - Buch
1030
Avila, Teresa von
Teresa von Avila - Gesammelte Werke - Weg der Vollkommenheit: 2
Taschenbuch - Sorgfältige Neuausgabe
Mir gefällt an dieser gesamten Neuausgabe (das bezieht sich auf alle Bände) gerade die wissenschaftlich fundierte und modernen Ansprüchen genügende Herangehensweise an die Werke Teresas von Avila, mit großem Respekt und Einfühlungsvermögen. Eine Hilfe zum Verstehen sind auch die Einführungen und Anmerkungen sowie die Übersetzung und Erläuterung verschiedener Begriffe, die Teresa verwendet. Mir gefallen gerade die Fußnoten sehr gut, die immer wieder deutlich machen, in welcher Situation und Position Teresa war, wie vorsichtig sie sein musste im Angesicht der Inquisition, wie beherzt und gradlinig sie war, sich nicht verbiegen ließ. Die Fußnoten helfen, Teresa besser einzuordnen in ihrem Kontext, ihrer Zeit und schlagen Brücken in unsere heutige Welt. Sie sind mir für das Verständnis Teresas sehr wichtig.
Mystische Erhebung und Einsicht in menschliche Schwächen
Dabei wird die Originalität Teresas sichtbar, ihr Humor, ihre Bodenständigkeit bei aller mystischen Erhebung, ihre klare Sicht und Einschätzung eines Lebens im Kloster, die Einsicht in menschliche Beziehungen und ihre Schwächen. Immer wieder betonen die Herausgeber, dass es ihr auf die "Suavidad" (Sanftheit)ankommt, Mäßigung in der Askese zu finden. Sie liebt keine Askese um der Askese willen. Ihr ist wichtig, Menschen gerecht zu werden in ihrer Situation, nicht alle gleichzumachen oder rigoristisch vorzugehen. Auf die Unterscheidung der Geister kommt es an.
Teresa von Avila in ihrer Zeit
Trotz allem Bemühen der Übersetzer und Herausgeber bleibt anzumerken: Es darf nicht vergessen werden, dass es sich um einen Text aus dem 16. Jahrhundert handelt, dessen Sprache erst einmal fremd ist, das Menschen- und Gottesbild dieser Zeit ist von unserer doch sehr verschieden. Andererseits zeigt sich immer wieder, dass Teresa diese Bilder unterläuft und ihre Vorstellung von Gott und Mensch entwickelt.
Wenn man sich durch die "Vida", ihre Lebensbeschreibung, stellenweise gequält hat(wenn auch immer wieder fasziniert über ihre Ehrlichkeit und ihren Mut - und wahrscheinlich war ihre Qual beim Erleben und dann beim Schreiben größer), dann versteht man im "Weg der Vollkommenheit", was sich in der Zwischenzeit bei ihr getan hat. Sie wirkt so viel selbstbewusster und freier, ist oft herrlich ironisch in Bezug auf die Gelehrten, verteidigt ihre Beziehung/Sichtweise zu Gott sehr geschickt, ebenso die Tatsache, dass sie als Frau in ihrer Zeit es wagt zu schreiben. Sie hat ihre Vorstellung von einem Leben mit Gott umgesetzt. Sie ist den Weg des "inneren Betens" gegangen, und das weitestgehend allein, weil die wenigsten in ihrer Umgebung damit Erfahrung hatten. Sie hat dies alles gewagt mit höchstem Risiko gegen den Mainstream der offiziellen Theologie ihrer Zeit. Das verdient alle Bewunderung.
HERDER spektrum - 2003 - Buch
1085
Baum, Vicki
Vicki Baum - Menschen im Hotel
Erstmals erschienen 1929, Neuauflage 1988, 2002, 2007, Taschenbuch
Vicki Baum - Menschen im Hotel
Autorin spannender Unterhaltungslektüre mit Tiefgang
Die Autorin (eigentlich Hedwig Baum) wurde am 24. Januar 1888 in Wien geboren, sie starb am 29. August 1960 in Hollywood. Sie war zunächst Musikerin (Harfenistin) an verschiedenen Konzerthäusern in Deutschland. Sie ging dann nach Berlin und arbeitete als Redakteurin. Mit ihrem frühen Roman „Stud. Chem. Helene Willfüer“ wurde sie schlagartig bekannt und gehörte später zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Weimarer Republik. Ihre Stärken sind u.a. die Aktualität ihrer Themen mit ihrer Behandlung der sozialen Probleme sowie ihre präzisen Milieuschilderungen. Ihre Romane sind zum einen spannende Unterhaltungsliteratur, zum anderen aber auch sprachlich interessant, weil oft witzig, ironisch, unsentimental, lassen aber durchaus Mitgefühl mit ihren Protagonisten erkennen. Ihre Romane sind ein wichtiger Beitrag zur so genannten „Neuen Sachlichkeit“. Sie schrieb zudem Drehbücher zu ihren Romanverfilmungen. Ihre Dramatisierung des Romans „Menschen im Hotel“ wurde am 26. Januar 1930 im „Theater am Nollendorfplatz“ uraufgeführt. Ab 1931 lebte sie in den USA. Dorthin war sie gereist, um an der Verfilmung des Buches mitzuwirken (Grand Hotel). Das Buch war schon früh ins Englische übersetzt worden und seine Dramatisierung wurde am Broadway in New York aufgeführt. Ihre Bücher fielen 1933 der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten zum Opfer, die sie 1938 ausbürgerten (sie stammte aus einem jüdischen Elternhaus). Sie blieb in den USA und nahm die amerikanische Staatsangehörigkeit an. Sie war verheiratet und hatte zwei Söhne. Ihre Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt, „Menschen im Hotel“ allein dreimal, u.a. mit Greta Garbo und John Barrymore, sie sind immer noch sehenswert. Ihre Bücher werden bis heute verlegt. 2018 erschienen in Buchform eine Reihe ihrer feuilletonistischen Texte, die sie für unterschiedliche Zeitschriften und Zeitung verfasst hatte.
Menschen und ihre Sehnsüchte
Im Berliner Grand Hotel trifft eine Hand voll Menschen zufällig aufeinander. Da ist die alternde Primadonna Grusinskaja, ausgebrannt, einsam, voller Angst vor dem Ende ihrer Karriere und dem Verlust ihres Publikums und nicht zuletzt ihres bisherigen Lebensinhaltes, dem Tanzen und dem Beifall der Menschen. Da ist Herr Dr. Otternschlag, ein Kriegsversehrter, dem bei einem Angriff das halbe Gesicht zerstört wurde. Er trägt immer Morphium bei sich, um seinem ebenso zerstörten Leben, wenn es unerträglich werden sollte, ein Ende setzen zu können. Er lebt im Grand Hotel und erkundigt sich jeden Tag beim Portier, ob irgendjemand nach ihm gefragt oder eine Nachricht für ihn hinterlassen hat. Das muss der Portier immer verneinen. Es fragt niemand nach dem Arzt. Baron von Gaigern ist ein weiterer Gast, jung, überaus gewinnend in seinen Manieren und in seinem Umgang mit Menschen. Bei seinem Anblick leuchten Gesichter auf. Er hat eine Aura von Wohlgestimmtheit um sich, die ansteckend auf andere wirkt. Aber der junge Mann aus gutem Haus, ebenfalls im Krieg verletzt, wenn auch weit weniger schrecklich, verbirgt ein anderes Gesicht als das, was ihn so sympathisch erscheinen lässt und das werden einige Menschen noch kennenlernen. Allerdings macht ihm sein gutes Herz immer wieder einen Strich durch seine diebischen Berechnungen. Herr Generaldirektor Preysing logiert ebenfalls im Grand Hotel. Er steht mächtig unter Druck von Seiten seines Schwiegervaters, in dessen Geschäft er eingeheiratet hatte, und der ihn für unfähig hält. Daran ändert auch nichts seine scheinbar glückliche Ehe mit seinen Kindern. Er ist geschäftlich im Hotel und die Geschäfte laufen denkbar schlecht. Die Sekretärin Flämmchen (Flamm II, Schwester von Flamm I), neunzehn Jahre jung, lebenshungrig, der beengten Verhältnisse bei sich zuhause überdrüssig, ist in ständiger Geldnot und arbeitet deshalb nicht nur als Bürokraft, sondern auch als Fotomodell, mehr oder weniger ehrbar.
Bleibt noch der Buchhalter Otto Kringelein. Er hat eine kleine Summe geerbt, ist todkrank, und aus seinem bisherigen, schon lange als tot empfundenen Leben, ausgebrochen. Er ist bei Herrn Generaldirektor Preysing als Buchhalter angestellt, leidet unter ihm und seiner eigenen schrecklich nörglerischen Frau. Im Angesicht des Todes erwacht in ihm der Wunsch, wenigstens einmal in seinem Leben das Gefühl zu haben, wirklich zu leben, sich lebendig zu fühlen. Er will unbedingt im Grand Hotel einchecken, das für ihn den Inbegriff des gehobenen Lebensgefühls verkörpert. Zudem will er es seinem Chef gleichtun, der hier immer absteigt, wenn er in Berlin ist. Kringelein – ein sprechender Name – ist die Unterordnung und das Kriechen satt und bereit, alles auf eine Karte zu setzen. Und irgendwie ist er das geheime Zentrum des Buches. Seine Verwandlung ist der eigentliche Höhepunkt des Romans. Doch die Person, die das Karussell in Gang hält, ist Baron von Gaigern, der Liebling vieler Menschen im Hotel.
Diese Personen treffen aufeinander, lernen sich kennen, schätzen, lieben, begleichen Rechnungen, berühren einander für Minuten, Stunden und gehen wieder auseinander, kommen sich näher und bleiben dennoch für sich, allerdings nicht alle.
Spielerische Leichtigkeit und ironische Brillianz
Und Kringeleins Verwandlung, an der Gaigern einen nicht unerheblichen Anteil hat, ist außerordentlich einfühlsam und beeindruckend geschildert. Allein die Szene, in der er unter der Führung Gaigerns völlig neu eingekleidet wird, ist ein Kabinettstück. Da wird der Mensch Kringelein gehäutet, der gekrümmte, der getretene, der uninteressante Kringel am alleräußersten Rande. Er häutet sich wie eine Schlange, die ihre alte Haut abwirft und aus Kringelein, dem gekrümmten, wird ein Mensch mit Rücken, der sich aufrichtet und ein anderer wird, einer, der er immer sein wollte. Wie lange er dann noch zu leben hat, ist eine andere Geschichte. Die können sich die Leser dann selbst erzählen.
Das Buch ist heute so aktuell wie damals, Vicki Baums Beschreibung der Menschen, die sich in einem Hotel begegnen, hat nichts von seinem einstigen Reiz verloren. Die Schicksale interessieren und berühren auch heute. Dies liegt u.a. an ihrer Sprache: klar, manchmal lakonisch, distanziert, locker, frech, witzig, ironisch. Und doch durchaus mitfühlend mit ihren Figuren. Sie kommt ihnen nahe, ohne sie vorzuführen. Sie lässt ihnen ihre Würde. Sie leben ihr Leben wie wir heute, manchmal machen sie dies gut, manchmal schlecht, ihre Gefühle sind die unseren. Deshalb ist das Buch außerordentlich gut lesbar, in keiner Weise veraltet. Jeder ihrer Protagonisten hat seine Gründe, die Frauen wie die Männer, sie alle sind nachvollziehbar: Menschen im Hotel eben. Kurze, teilweise leidenschaftliche, Begegnungen und dann geht man auseinander, sieht sich nie wieder. Lebensschicksale haben sich entschieden, die Drehtür des Hotels weht die Menschen herein, sie wehen wieder hinaus und die nächsten Gäste des Hotels kommen mit ihren Geschichten und Schicksalen. Viele Stellen im Buch sind großartig geschrieben. Da sieht man über kleine Schwächen hinweg. Vicki Baum selbst hielt ihren Baron von Gaigern für nicht ganz gelungen. Trotzdem: Er funktioniert durchaus.
Kiepenheuer & Witsch - 2007 - Buch
1021
Bennett, Alan
Cosi fan tutte
britischer Schriftsteller, Schauspieler, Dramatiker und Drehbuchautor, geb. 1934 -
Übersetzung: Brigitte Heinrich
Das Ehepaar Ransome ist schon lange aneinander gekettet in harmonischer Langeweile und Lebensroutine. Ein Besuch der Mozart-Oper Cosi fan tutte bzw. die Heimkehr aus derselben wirft das Ehepaar völlig aus der Bahn und in ungeahnte Abenteuer. Als sie nach Hause kommen, ist nämlich ihre ganze Wohnung ausgeräumt, aber absolut ausgeräumt. Ein Rundum-Diebstahl hat sie ihrer sämtlichen Habseligkeiten beraubt, selbst die Toilette wurde mitgenommen. Was tun?
Und wie gehen die beiden damit um? Sie tun dies auf sehr unterschiedliche Weise. Und das Ende ist dann nicht nur eine Überraschung, sondern auch, zumindest für den einen Part der Ehe, eine Art Befreiung.
Das Ganze ist sehr unterhaltsam geschrieben, hintergründig und manchmal, aber nur manchmal, leicht boshaft. Alan Bennett zeigt, dass Veränderungen sehr interessante Folgen haben und völlig neue Lebensperspektiven eröffnen können. Wenn man sich auf sie einlässt … Und das ist überhaupt nicht cosi fan tutte.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin - 2009 - Buch
1020
Bennett, Alan
Die Lady im Lieferwagen
britischer Schriftsteller, Schauspieler, Dramatiker und Drehbuchautor, geb. 1934 -
Übersetzer: Ingo Herzke
Eine wahre Geschichte, wie das Leben sie manchmal spielt
Miss Shepard ist alt, mehr als exzentrisch, um nicht zu sagen egoistisch, nervtötend und unausstehlich. Sie lebt in einem zugemüllten Lieferwagen und spannt alle und alles für sich ein.
Dennoch: Die meisten Menschen können ihrer gespielten oder tatsächlichen Hilflosigkeit nicht entkommen, wehren sich auch gar nicht richtig. Und Alan Bennett ist derjenige, der ihr überhaupt nicht widerstehen kann. Es ist eine mehr als angespannte Beziehung, die die beiden über 15 Jahre miteinander austragen. Aber er hält ihr Leben fest in seinen Aufzeichnungen und übt damit eine wundervolle Rache an ihr.
Und wie das so geht: Auch die wenigsten Leser können der alten Dame widerstehen. Allerdings können bzw. müssen sie sie auch nicht riechen - es ist ja nur ein Buch.
Sie sollten es sich nicht entgehen lassen, man kann immer noch lernen .... Tipp: Wenn es geht, liest man das Buch am besten laut.
Tipp: Es gibt einen Film dazu nach dem Theaterstück von Alan Bennett, der auch das Drehbuch schrieb. Maggie Smith verkörpert Miss Shepard, die sie auch schon in der Adaption für das Theater gespielt hatte. Sie ist sympathischer als ihre Vorlage, viel weniger bösartig. Der Film verdeutlicht auch ein wenig stärker, warum Alan Bennett (gespielt von Alex Jennings) der alten Dame so hilflos ausgeliefert ist. Und Maggie Smith ist in jedem Fall wert, diesen Film anzuschauen.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin - 2004 - Buch
1022
Bennett, Alan
Schweinkram
britischer Schriftsteller, Schauspieler, Dramatiker und Drehbuchautor, geb. 1934
Übersetzer: Ingo Herzke
Das Buch besteht aus zwei Geschichten:
Mrs. Donaldson erblüht und Mrs. Forbes wird behütet.
Ich hörte zuerst das Buch gelesen von Christoph Maria Herbst. Es war spät am Abend, ich müde. Normalerweise wäre ich darüber eingeschlafen. Aber in diesem Fall ging das überhaupt nicht. Meine Güte, hat mir das Spaß gemacht. Christoph Maria Herbst ist genau der richtige für dieses Buch. Und er macht deutlich – im Verein mit dem Übersetzer Ingo Herzke, dass die deutsche Sprache der englischen in nichts an Ironie, Witz, Hintergründigkeit und Schlagfertigkeit zurücksteht. Das ist große Klasse.
Mrs. Donaldson erblüht
Mrs. Donaldson, seit kurzem Witwe und finanziell nicht wirklich abgesichert, muss schauen, wie sie ihr neues Leben angehen und sich in ihm zurecht finden soll. Sie sucht sich zunächst einen Nebenjob in einem Krankenhaus. Dort spielt sie mit den nötigen Instruktionen versehen unterschiedliche Patientinnen mit ihren jeweiligen Krankengeschichten. Das gelingt ihr zusehends professionell und sie ist beim Personal und dem betreuenden Arzt sehr beliebt, insbesondere bei ihm.
Das finanzielle Problem ist dadurch kleiner geworden, aber es reicht nicht ganz. Und so kommt sie auf die Idee, ein Zimmer ihres Hauses unterzuvermieten an Studenten, misstrauisch beäugt von ihrer verklemmten, gefühlskalten und egoistischen Tochter. Unversehens gerät Mrs. Donaldson aber in sehr interessante, wenn auch – in den Augen ihrer Tochter – unziemliche Situationen. Im Laufe der Zeit lernt sie, auch diese zu bewältigen – wie, das sollten die geneigten Leser am besten selbst herausfinden.
Mrs. Forbes wird behütet
Wie auch in seinen anderen Geschichten breitet Alan Bennett das Szenario von gutbürgerlichen Ehen und Familien aus, in den es die üblichen und teilweise auch schwierigen Geheimnisse gibt. Viele Dinge bleiben unausgesprochen, manches unentdeckt. Und es ist wie immer sehr vergnüglich zu sehen, wie er das macht, welchen Illusionen sich die verschiedenen Mitglieder über das Leben und ihre Mitmenschen hingeben. Einige bleiben völlig ahnungslos. Und sind dann sehr behütet und glücklich, wie Mrs. Forbes. Und der Rest der Familie lebt, wie es ihnen gefällt. Unter einer Bedingung: Es muss alles schön unter der Decke – vor allem da - bleiben. Dann funktionieren auch die schönen und unschönen Lebenslügen.
Fazit: Beide Erzählungen machen großen Spaß, weisen einiges an Überraschungen auf, sind hintergründig wie immer bei Alan Bennett, leicht subversiv und geeignet, brave Bürger und Bürgerinnen moralisch auf Abwege zu bringen. Oder ihnen zu helfen, ihr Leben mal ganz anders zu betrachten. Das hängt von der jeweiligen Perspektive oder Lebensmaxime ab.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin - 2012 - Buch
1024
Borrmann, Mechtild
Trümmerkind
deutsche Kriminalschriftstellerin, geb. 1960 - gebundene Ausgabe
Spannend und lehrreich
Die Taten der Mütter und Väter fallen auf ihre Kinder zurück
Ich las eine Rezension auf WDR 2 und fand die schon außerordentlich interessant. Ich habe es nicht bereut, das Buch gekauft zu haben. Einmal führt es zurück in die Zeit des 2. Weltkrieges und danach und zeigt einerseits anhand der Protagonisten, wie gefährlich und menschlich zerstörend diese Zeit war.
Es sind verschiedene Schicksale miteinander verknüpft: Wie sie sich ergeben - zufällig teilweise - und welche Folgen das haben kann, wird sehr spannend und nachvollziehbar beschrieben. Auf der anderen Seite erfährt man, wie die Nachfahren dieser Menschen leben, was sie über ihre Eltern und Großeltern wissen - was sehr wenig ist - und vor allem, was sie nicht wissen. So schrecklich und tragisch die Ereignisse sind: Die Folgen der Taten der vorigen Generation treffen dann vor allem die Kinder, die zum einen nichts von den Lebenslügen und den Taten der Eltern wissen, die aber immer spüren, dass da etwas nicht Ordnung ist und darunter leiden, ohne wirklich zu wissen, warum.
Wie hart eine solche Aufarbeitung sein und was alles dabei ans Tageslicht kommen kann, das erzählt die Geschichte von Anna und Joost. Andererseits zeigt sich dann auch, wie befreiend die Wahrheit bei aller Bitterkeit wirken kann.
Das Buch ist wie ein Türöffner
Ich habe das Buch mit Menschen besprochen, die diese Zeit als Kinder noch erlebt und die die Orte, die Mechtild Borrmann beschreibt, kennengelernt haben. Sie waren erstaunt, wie genau diese Beschreibungen sind: Ob in der Uckermark, in Schleswig Holstein oder das Nachkriegshamburg.
Und sie hatten Geschichten zu erzählen, dass ich dachte: Meine Güte, was die erlebt haben. Und welche Bücher und Filme man daraus machen könnte. Das Buch war wie ein Türöffner in die Vergangenheit und für diese Menschen ein Anlass, nach teilweise vielen Jahren endlich wieder über diese Zeit und ihre Erfahrungen sprechen zu können.
Ein überaus spannendes, sehr gut recherchiertes und lesbares Buch, es ist lehrreich, ohne belehrend zu wirken. Es holt die Menschenschicksale aus der Vergessenheit und zeigt gleichzeitig, dass nur Erinnern helfen kann, solche schrecklichen Zeiten zu verhindern.
Verlag Droemer HC - 2016 - Buch
1115
Brookner, Anita
Anita Brookner – Hotel du Lac
englische Ausgabe erschienen 1984, deutsche Ausgabe 2020
Dora Winkler
Geheimtipp - Wiederentdeckung
Geboren 1928 in London, Studium der Kunstgeschichte, Expertin für französische Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts, übernahm 1967 als erste Frau die Slade-Professur der Schönen Künste in Cambridge. Literarisches Debüt 1981: Ein Start ins Leben.
Für "Hotel du Lac" erhielt sie 1984 den Booker-Prize. Sie starb 2016. Insgesamt erschienen insgesamt 24 Romane. Sie gilt als meisterhafte Stilistin.
39 Jahre und kein bisschen weise bzw. angepasst - Edith Hope
Edith Hope ist 39 Jahre alt, Schriftstellerin, Autorin von mehr oder weniger romantischen Romanen, die sich noch gut, aber nicht mehr so gut wie früher verkaufen. Sie schreibt nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Und sie hat sich einen schlimmen Fauxpas geleistet, zumindest in den Augen ihrer Freunde und Bekannten. Nun wurde sie für ca. einen Monat ins Exil geschickt, zur Buße und damit sich Gemüter beruhigen. Das „Hotel du Lac“ liegt in der Schweiz an einem See; es ist Herbst, Nachsaison, das Hotel spärlich belegt und sehr konservativ gediegen. Zur Buße gehören schlechtes Wetter, dem schlechten Gewissen angepasst. Trübselige Stimmung und Orientierungslosigkeit der Heldin.
So ganz bußfertig scheint die Delinquentin aber nicht zu sein, vielleicht sogar ein wenig aufsässig. Das bekommt ihre feine Londoner Gesellschaft aber nicht mit. Und was Edith so Schlimmes getan hat, erfährt der Leser/die Leserin später im Buch. In meiner Achtung stieg sie ab da allerdings stark. Ich hatte sie schon als depressive, in ihre Graues-Maus-Dasein verliebte Person eingestuft. Aber das täuschte. Wie so vieles in diesem Roman. Mit Edith steigen Leserinnen und Leser langsam hinter die Lebens- und anderen Lügen der Hotelgäste, die sie in Ermangelung anderer Zerstreuungen intensiv beobachtet, belauscht und in Beziehung zu sich und ihrem Leben ebenso wie zu ihren Freunden und Freundinnen in London setzt. Und zu überraschenden Erkenntnissen kommt, vor allem über sich selbst und die Versuchungen, die ihr erneut begegnen in Gestalt eines gewissen Mr. Neville. Der Teufel steckt im Detail, wie sie herausfindet.
Mehrfaches Lesen erwünscht
Beim zweiten Lesen hat mir das Buch Spaß gemacht, beim ersten Mal war ich manchmal genervt, weil die Heldin so wenig zielbewusst schien, so halt- und ziellos. Aber wer in einer Lage wie Edith ist, der/die kann wohl gar nicht anders. Das Ende allerdings war ganz in meinem Sinn. Ich war’s zufrieden. Und habe nochmal von vorn angefangen. Jetzt bereiten mir die feine Ironie, die überaus kritische Haltung der Autorin und die schönen Spitzen gegen die so genannte gute Gesellschaft richtig Vergnügen.
Und wie Edith können sich ihre Leser und Leserinnen fragen: Wie hältst du es eigentlich mit deinen Beziehungen, Freundschaften, Lieben? Wie ehrlich und aufrichtig ist das alles. Wie gehst du mit Alleinsein und Einsamkeit um? Welche Kompromisse gehst du denn ein, bist du bereit einzugehen? Hand aufs Herz.
Ich verdanke Daniel Schreiber und seinem Buch „Allein“ den Hinweis auf Anita Brookner. Guter Tipp.
Verlag Eisele - 2. Auflage 2021 - Buch
1112
Dexter, Colin
Colin Dexter - Inspector Morse
Verschiedene
Colin Dexter und sein Inspector Morse - altmodisch und doch gar nicht so alt
Norman Colin Dexter war ein britischer Schriftsteller, Autor von Kriminalromanen. Geboren wurde er am 29. September 1930 in Stamford, Lincolnshire. Er starb am 21. März 2017 in Oxford. Dexter stammte aus einer gutbürgerlichen Familie und studierte nach dem Schulabschluss und dem Ende seiner Militärzeit am Christ College in Cambridge klassische Sprachen. 1998 machte er dort seinen Masterabschluss. Er unterrichtete einige Zeit an verschiedenen Schulen. 1966 nahm er eine Stellung an einem College in Oxford an, da bei ihm eine beginnende Taubheit diagnostiziert wurde. Er war dort vor allem mit der Erstellung von Prüfungsaufgaben und deren Überprüfung betraut. In dieser Position arbeitete er zu seiner Pensionierung 1988. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit war er für die BBC tätig. Hier war er u.a. maßgeblich an einer Folge der Serie „Timeshift“ beteiligt mit dem Titel: „How to Solve a Cryptic Crossword“. Die Universität Lincoln verlieh ihm 2011 einen Ehrendoktor im Bereich Literaturwissenschaft. Schon im Jahr 2000 wurde er mit dem Titel “Officer of the Order of the British Empire “for services to literature“ geehrt.
Wie Inspector Morse das Licht der Literaturwelt erblickte
Laut einer Anekdote – von ihm selbst erzählt – verdankt Dexters Inspector Morse (Endeavour Morse) einem verregneten Urlaub sein Dasein. Dexter langweilte sich und begann, sich die Zeit mit schriftstellerischen Versuchen zu vertreiben. Nach zwei nicht zufriedenstellenden Erzählungen dachte er sich, das müsse er doch besser können. Und so entstand Inspector Morses erster Fall, „Der letzte Bus nach Woodstock“. Ihm folgten in der Zeit zwischen 1975 und 1999 noch 12 Bände. Der 14. Band, erschienen schon 1993, umfasst Kurzgeschichten: „Ihr Fall, Inspector Morse“.
Alle Bände erschienen auf Deutsch zunächst bei Rowohlt, dann bei rororo. Seit 2018 veröffentlichte der Schweizer Unionsverlag sukzessive alle Romane in neuer Bearbeitung. Die Reihe der Neuauflage wurde 2021 mit dem einem Band mit Kurzgeschichten vollendet. Wie wohl Dexters Romane als „altmodisch“ gelten, ist die Neuausgabe des Werkes beständig in den Top 25 der Bestsellerliste Independent (Belletristik) des Börsenblatts des deutschen Buchhandels zu finden
Das Fernsehen, das Fernsehen - Spin-offs und Prequels
Seit Jahren sind Inspector Morse und Sergeant Lewis auch Helden verschiedener englischer Krimiserien. Zu Beginn wurden verschiedene Romane Colin Dexters für das britische Fernsehen mit John Thaw als Morse und Kevin Whately als Lewis verfilmt. Später entstand dann ein so genanntes Spin-off mit dem Schauspieler als Inspector Lewis (Lewis – der Oxford Krimi). Und seit einigen Jahren ist die Serie „Endeavour“ (Der junge Inspektor Morse) mit Shaun Evans als jungem Morse sehr erfolgreich. Es handelt sich um Kriminalfälle von anderen Autoren, die sich der Charaktere von Colin Dexter bedienen. Diese Serien liefen und laufen seit Jahren auch im Zweiten Deutschen Fernsehen bzw. bei ZDF Neo. Zurzeit, im August 2021, laufen die alten Staffeln „Der junge Inspektor Morse“. Die 7. Staffel der Reihe ist auf Englisch schon erschienen. Die Fans warten gespannt auf die deutsche Fassung.
Wer ist Endeavour Morse?
Er ist Detective Inspector und später Detective Chief Inspector bei der Mordkommission Oxford. Alle Fälle spielen in Oxford und Umgebung. Ihm zur Seite steht vom ersten Fall an sein Detective Sergeant Robert Lewis. Die beiden sind verschieden wie Tag und Nacht. Morse, impulsiv, unkonventionell, sehr gebildet und belesen, hält nicht so viel von langweiliger Polizeiwühlarbeit. Er hat den Kopf gerne ein bisschen in den Wolken, tüftelt und rätselt für sein Leben gerne (z.B. jeden Morgen zu Dienstbeginn löst er das Kreuzworträtsel in der „Times“.) Er hat eine außerordentliche Spürnase für Verbrechen und ist sehr erfolgreich in seiner Arbeit. Die langweilige Nachforschungsarbeit und das so genannte „Klinkenputzen“ ist nicht seine Sache. Da muss immer wieder Lewis ran, sein treuer Gefährte. Lewis ist zu Anfang der etwas fantasielose, pedantische, überkorrekte, aber sehr zuverlässige Polizist, ohne den Morse sich wohl des Öfteren in seinen Überlegungen und Theorien hoffnungslos verrennen würde
Inspector Morse – wie er leibt und lebt (bildlich gesprochen)
Morse ist in der Regel unglücklich verliebt, d.h. immer in die falschen, weil verdächtigen, Frauen. Lewis dagegen ist verheiratet und mit seiner Frau bzw. seinem Familienleben durchaus glücklich. Morse ist im Laufe der Zeit wahrscheinlich zum Alkoholiker geworden. Einsamkeit und Grübeleien tragen dazu bei. Er wirkt oft mürrisch, raucht wie ein Schlot und behauptet, Alkohol und Rauchen seien unverzichtbar für ihn beim Denken. Mehrfach springt er dem Tod von der Schippe, aber im 13. Band der Reihe (Der letzte Tag) sind Herz und Körper erschöpft. Der jahrelange Alkoholmissbrauch sowie der starke Rauchkonsum und sein auch sonst sehr ungesundes Leben fordern ihren Tribut.
Morse liebt klassische Musik, Opern und vor allem Wagner. Er hasst Rechtschreib- und Grammatikfehler und kann dann – und nicht nur dann – recht ungemütlich werden. Ein bisschen blasiert wirkt er dadurch auch. Aber, selbst wenn er seinen Sergeant Lewis zeitweise über Gebühr nervt und strapaziert, so arbeitet der doch gerne mit zusammen, weil er nun mal ist, wie er ist. Gerade das Unkonventionelle und Fantasievolle ziehen Lewis an. Die Tretmühle Polizeialltag wird durch Morse für ihn erträglicher. Und im Laufe der Jahre und der Ermittlungen lernt Morse seinen Lewis immer mehr zu schätzen und zu mögen. Die beiden brauchen einander, zusammen sind sie ein sehr gutes Team, irgendwie die zwei Seiten einer Medaille.
Endeavour bedeutet Anstrengung, Bemühung. Morse ist über diesen Vornamen nicht glücklich. Und wer eine Übersetzung für Morse sucht, kommt über das Morsealphabet nicht weit hinaus. Allerdings handelt es sich auch um einen englischen Familiennamen.
Die Romane – Whodunit-Spiele und vieles mehr
Colin Dexters Bücher sind im besten Sinne altmodisch, das alte Whodunit-Spiel wird gespielt, aber bereichert um wirklich interessante Fälle. Zudem ist Morse klug, integer, unkonventionell, ein bisschen bärbeißig, aber immer wieder mitfühlend, nachdenklich. Einer, der wirklich wissen will, wie es war und der keinen Dienst nach Vorschrift kennt. Er lässt sich nicht bestechen, steht sich aber manchmal selbst im Weg und hat einen Hang zu Melancholie und Weltschmerz, die er beide mit Alkohol, Rauchen und Wagner zu betäuben sucht. Die Geschichten sind gut erzählt mit überraschenden Wendungen. U.a. wenn und weil Morse sich in seinen Gedankenkonstruktionen verrennt. Zum Glück für ihn ist Lewis zur Stelle, der ihn auf die Erde zurückholt.
Das Ganze ist immer wieder witzig, vor allem die Beschreibung der blasierten Oxforder Gelehrten-Oberschicht, die alle eine oder mehrere Leichen im Keller haben. Morse zeigt oftMitgefühl für die Unterpriviligierten, für die Gescheiterten, für Prostituierte (manchmal ein bisschen zu sehr, das tut dann am Ende wieder weh) und Kleinkriminelle. Dexters Beschreibung von Frauenfiguren ist manchmal vielleicht ein bisschen sexistisch und überaltet – aus heutiger Sicht betrachtet – aber er ergreift immer wieder Partei für die Frauen, die von Männern der Ober- oder Unterschicht verachtet und misshandelt werden. Und die Romane sind nie übermäßig gewalttätig oder pornographisch. Gewaltpornographie sucht man bei Colin Dexter vergeblich. Das rechne ich ihm hoch an.
Titel der Inspector Morse-Reihe
1. Der letzte Bus nach Woodstock (1975)
2. Zuletzt gesehen in Kidlington (1976)
3. Die schweigende Welt des Nicholas Quinn (1977)
4. Eine Messe für all die Toten (1979)
5. Die Toten von Jericho (1981)
6. Das Rätsel der dritten Meile (1983)
7. Hüte dich vor Maskeraden / Das Geheimnis von Zimmer 3 (1986)
8. Mord am Oxford-Kanal / Gott sei ihrer Seele gnädig (1989)
9. Tod für Don Juan / Der Wolvercote-Dorn (1991)
10. Finstere Gründe / Der Weg durch Wytham Woods (1992)
11. Die Leiche am Fluss / Die Töchter von Kain (1994)
12. Der Tod ist mein Nachbar (1996)
13. Und kurz ist unser Leben / Der letzte Tag (1999)
• Ihr Fall, Inspector Morse (1993, Erzählungen)
Die abweichenden Titel beruhen auf denen der früheren Rowohlt-Ausgaben. Alle Bände sind – wie schon erwähnt – im Unionsverlag Schweiz neu erschienen.
Bei Gefallen: Einfach alle lesen.
Ich habe alle seine Romane mittlerweile gelesen und das gerne. Vor allem „Gott sei ihrer Seele gnädig“, „Der letzte Tag“ und „Ihr Fall, Inspector Morse“ haben es mir angetan.
„Gott sei ihrer Seele gnädig“. In diesem Roman liegt Morse im Krankenhaus, weil er es mal wieder mit Alkohol, Rauchen und ungesunder Ernährung zu weit getrieben hat. Und vom Krankbett aus ereilt ihn ein Fall aus dem 19. Jahrhundert, der als vollständig aufgeklärt galt. Morse nun beginnt mit Lewis‘ Hilfe zu ermitteln. Und natürlich sieht seine Aufklärung ganz anders aus. Das hat mir gefallen, das ist geistreich, witzig, spannend und überzeugend ermittelt.
„Der letzte Tag“ ist eine verzwickte Geschichte, in der sich Morse für seinen Sergeant Lewis sehr undurchschaubar verhält. Morse will von dem Fall überhaupt nichts wissen, will sich heraushalten, kann es dann doch nicht und ermittelt wider besseres Wissen. Seiner Gesundheit ist das leider mehr als abträglich und Lewis weiß zuletzt nicht mehr, was er von seinem langjährigen Ermittlerchef und Vorbild halten soll. Kann er ihm noch vertrauen?
„Ihr Fall, Inspector Morse“ ist eine Sammlung von Kriminalerzählungen, die Colin Dexter auf der Höhe seiner Schriftstellerkunst zeigen. Witzig, verschmitzt, geistreich, einfach klasse.
Alle anderen Romane sind ebenso empfehlenswert, z.B. „Die schweigende Welt des Nicholas Quinn“. Hier ist ein Opfer taub. Dies kannte Colin Dexter ja aus eigener Erfahrung.
Unsionsverlag Schweiz - 2018-2021 - Buch
1100
Gardam, Jane
Jane Gardam - Old Filth, Betty, Terry Veneering und die anderen
Isabel Bogdan
Jane Gardam - Von Yorkshire aus um die Welt (jedenfalls einem nicht unbeträchtlichen Teil daraus)
Jane Gardam, Jahrgang 1928, stammt aus North Yorkshire. Sie wurde zweimal mit dem Whitbread/Costa Award aufgezeichnet und landete mit „Old Filth“ (Ein untadeliger Mann) auf verschiedenen Bestsellerlisten. Sie schreibt und beschreibt Menschen, Ereignisse und Zeiten mit viel Humor, Witz und Warmherzigkeit. Sie schreibt für Kinder und Erwachsene. Erst im Alter von 43 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman.
Old Filth - Ein untadeliger Mann
Edward Feathers, genannt Old Filth, ist alles in allem ein Gentleman vom Scheitel bis zu Sohle. Untadelig und makellos. Vielleicht auch ein bisschen distanziert. Er war Anwalt in Hongkong, als es noch britische Kronkolonie war. Eine glänzende Karriere, eine treue Ehefrau, selbst erfolgreich. Die beiden sind steinreich und haben sich auf ein schönes, ruhiges Haus in Dorset zurückgezogen. Kinder gibt es nicht. Sie können ganz für sich und ihre Hobbies leben. Sie haben sich in einem langen Leben miteinander arrangiert und genießen dieses Miteinander, das allerdings auch in einer gewissen Routine erstarrt scheint.
Doch hinter dieser ruhigen, glatten Oberfläche liegen tief verborgen schwere Erinnerungen, Verletzungen und Entbehrungen. Die glückliche Kindheit in Malaysia, die einsame Jugend in Wales bei einer mehr als hartherzigen Pflegmutter. Old Filth gehört zu den so genannten Raj-Waisen, Kindern englischer Angehöriger der Oberschicht bzw. des Militärs, die in Asien bzw. im „Empire“ stationiert waren. Sie schickten ihre Kinder sehr oft zurück in die Heimat, damit sie den Kontakt zu England und seiner Lebensart nicht verloren. Viele dieser Kinder machten traumatische Erfahrungen, die i.d.R. ignoriert wurden. Als Old Filth‘ Frau Betty überraschend stirbt, brechen sie auf und er macht sich auf eine Reise in die Vergangenheit, zu seinen Geheimnissen, die auch Betty nicht kannte, und zu Menschen, die er aus dieser Zeit kennt und die noch leben.
Betty - Eine treue Frau
Betty, die Frau von Old Filth, ist die Protagonistin dieses Buches. Hat man seine Geschichte kennengelernt, so erfährt man mit diesem Band ihre Geschichte. Und die weist in einigen Punkten ganz erhebliche Unterschiede zu seiner Version auf. Betty ist eine sehr eigene, sehr selbstständige Frau. Sie hat auch ihre Geheimnisse, von denen Old Filth keinen Schimmer hat. Und seinen Lieblingsfeind, Terry Veneering, kennt sie viel besser, als er je ahnen wird. Ihre Lebenswege kreuzen sich immer wieder. Old Filth verbleibt in seiner ablehnenden Haltung zu Terry Veneering, während Betty viel tiefer sieht und versteht.
„Die Leute von Privilege Hill“ und „Letzte Freunde“
Thema mit Variation: Zu den schon bekannten Personen Old Filth, Betty, seiner Frau, und Terry Veneering, Old Filth‘ Lieblingsfeind, gesellen sich noch andere Figuren mit ihren Geschichten. Allen gemeinsam ist ein mittlerweile hohes Alter und verschiedene gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen. Skurril sind sie alle ein bisschen, manche sogar ein wenig verrückt, aber doch liebens- und vor allem lesenswert. Und die Texte haben es - wie immer bei Jane Gardam - in sich. Da gibt es jede Menge Unter- und Zwischentöne. Manchmal sind sie ganz schön boshaft oder entlarvend, obwohl oder weil sie so "harmlos" daherkommen.
Bell und Harry - Geschichte einer Freundschaft
Harry, Sprößling aus einer Londoner Familie verbringt seine Ferien regelmäßig in einem alten Farmhaus in Yorkshire. Dort freundet er sich mit Bell, dem Sohn seiner Vermieter an. Über die Jahre hinweg erleben sie viele Abenteuer – manche nicht ganz ungefährlich, aber immer sehr spannend. Und Harry lernt viele Menschen, die dort leben, kennen. Manche sehr nett, andere aber schwierig und merkwürdig. Doch selbst die sind nicht immer so schrecklich, wie sie scheinen.
Jane Gardam ist ein Buch für die ganze Familie gelungen: Für Heranwachsende, die sich an Bell und Harry erfreuen, für Erwachsene, die den Witz und den Humor dieser Autorin schätzen lernen können. Mir gefallen insbesondere die Kapitel „Die Eierhexe“ und „Granny Crack“. Harry macht hier die Bekanntschaft mit einer ganz frommen Familie, auf die er auf seine Weise reagiert, und mit deren Großmutter, die es faustdick hinter den Ohren hat. Aber nichts ist, wie es scheint. Und alles bleibt im Fluss …..
Ein rundum gelungenes Buch voller Humor, Abenteuern und schrulligen Menschen, denen ich gerne begegnet wäre.
Weit weg von Verona
Jessica ist ein Mädchen in der Pubertät, eigenwillig und unangepasst. Sie und ihre Familie leben wärend des 2. Weltkrieges in England. Der Vater war - ist - Housemaster an einer Schule und die ganze Familie macht den Eindruck, sehr eigenwillig zu sein. Jessica beschreibt sich als "nicht ganz normal, nicht sehr beliebt, sie redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist und sagt immer und überall die Wahrheit". Das bringt sie und ihre Familie nicht selten in gesellschaftliche Turbulenzen, ganz zu schweigen von den Schrecken des Krieges. Doch sie lässt sich nicht unterkriegen und verliert nie ihren Traum aus den Augen: Sie möchte Schriftstellerin werden.
Ein mitreißendes Buch über Kindheit und Jugend und deren Ende. Ernsthaft, humorvoll, wie immer bei Jane Gardam.
Robinsons Tochter
Polly Flint und Jessica haben viel gemeinsam: Sie sagen, was sie denken. Auch Polly ist unangepasst und eigenwillig. Sie wächst Anfang des 20. Jahrhunderts in Yorkshire, England, bei ihren beiden Tanten Mary und Frances auf. Dort hat sie ihr Vater, ein Seemann, gelassen. Pollys Mutter starb, als das Kind ein Jahr alt war. Seitdem war sie bei verschiedenen Pflegefamilien untergebracht, an die sie nur wenige und schlechte Erfahrungen hat. Auch ihr Vater stirbt bald, nachdem Polly bei ihren Tanten angekommen ist. Sie wächst relativ einsam auf, ein Kind unter lauter sehr frommen Erwachsenen auf. Ausbrüche von Liebe sind von den Tanten nicht zu erwarten, aber insgesamt wird Polly sehr gut behandelt und insbesondere Tante Frances ist ihr auf ihre zurückhaltende Art sehr zugetan. Eines Tages entdeckt Polly "Robinson Crusoe" von Daniel Dafoe. Sie vergleicht Robinsons Leben auf einer Insel mit ihrem Leben und findet, sie lebt auch auf einer Art Insel. Das Buch verhilft ihr zu einer Art Lebensstragie bzw. Überlebensstrategie. So übersteht sie zwei Weltkriege und persönliche Enttäuschungen. Das Buch hat auch einen negativen Einfluss auf sie, weil sie sich darin verbeißt und irgendwann den Bezug zum Leben zu verlieren droht. Aber da hilft ihr Alice, das Hausmädchen und spätere Freundin heraus. Und auch andere Menschen, die Polly sehr zugetan sind. Am Ende kann sie auf ein reiches und sehr eindrucksvolles Leben zurückblicken.
Robinsons Tochter ist eines der ersten Bücher Jane Gardams und in England schon 1986 veröffentlicht worden. Im Jahr 2020 erschien es endlich auf Deutsch. Das Buch ist ebenso berührend wie humorvoll - wie immer sind Charaktere sehr lebendig geschildert, mit all ihren Verrücktheiten, Sehnsüchten und sie sind immer für eine Überraschung gut.
Jane Gardam - Humor, Witz, Ironie und Lebensweisheit
Ihre Bücher zeichnen sich durch ebendiese Vorzüge aus. Sie ist oft lakonisch, nicht sentimental, aber immer bei den Menschen, die sie vorstellt. An der Oberfläche scheint sie leicht, aber Vorsicht, es gibt Tiefen und Untiefen. Man muss sie entdecken und zu lesen verstehen. Hier wird so manches zwischen den Zeilen erzählt. Es lohnt sich, diese Autorin zu entdecken, der nicht nur in ihrer Heimat ein Kultstatus eingeräumt wird. Hält auch beim zweiten und dritten Lesen stand.
DTV, Hanser - 2015, 2016, 2017, 2019, 2020 - Buch
1098
Gasdanow , Gaito
Gaito Gasdanow - Nächtliche Wege
Christiane Körner
Gaito Gasdanow - Nächtliche Wege
Auf nächtlichen Wegen durch Paris und das Leben
Gaito Gasdanow, eigentlich: Georgi Iwanowitsch Gasdanow, geboren 1903 in Sankt Petersburg, gestorben 1971 in München, war ein russischer Schriftsteller und Journalist. Im Zuge der russischen Revolution und auf abenteuerlichen Wegen kam er 1923 als Emigrant nach Paris. Er arbeitete als Lastenträger, Lokomotivwäscher und Mechaniker (bei Citroën). Nachts fuhr er Taxi und besuchte zudem an der Sorbonne Vorlesungen in Literaturgeschichte, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften. Er publizierte in Zeitungen und Zeitschriften der russischen Emigration. Seine Arbeiten wurden positiv bewertet, die Honorare waren aber sehr gering, so dass seine finanzielle Lage immer prekär blieb. Im Zweiten Weltkrieg schloss er sich mit seiner Frau der Résistance an und wirkte im bewaffneten Widerstand mit. Er und seine Frau halfen, jüdische Kinder zu verstecken. Nach dem Krieg veröffentlichte er über die Zeit ein Buch, mit dem er zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Er arbeitete wieder als Nachttaxifahrer, als Journalist und Autor. Ab 1952 war er – zunächst als freier Mitarbeiter, später dann als Angestellter – für das russische Programm des Senders Radio Liberation (später: Radio Liberty) tätig. Dieser Sender wurde vom amerikanischen Kongress finanziert. Er berichtete aus Paris, später aus München. Zuletzt war er der Leiter des russischen Programms in der Zentrale in München – Schwabing. Er starb im Dezember 1971 in München an Lungenkrebs. Gasdanow wird einer Gruppe junger, russischer Emigranten, dem „Russki Montparnasse“ zugerechnet, die sich in den 1930er Jahren vom Prosastil der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts abwandten und sich mehr an Proust, Kafka, Gide, Joyce orientierten und Freud verehrten. Er veröffentlichte, neben seiner journalistischen Arbeit, neun Romane und 37 Erzählungen. Sie erschienen in russischen Emigrantenverlagen. Er geriet allerdings schnell in Vergessenheit. In den 1990er Jahren, mit dem Zerfall der Sowjetunion, wurde er als Entdeckung gefeiert und sein Werk einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im deutschen Sprachraum erschienen erst ab 2012 Werke von ihm, beginnend mit seinem Roman „Das Phantom des Alexander Wolf“.
Nächtliche Wege
„Vor einigen Tagen erblickte ich während der Arbeit, tief in der Nacht, auf der zu dieser Stunde völlig menschenleeren Place Saint-Augustin einen kleinen Karren von dem Typ, wie ihn gewöhnlich Invaliden benutzen. …. Der Karren bewegte sich unglaublich langsam, wie im Traum, umfuhr den Kreis vieleckiger Leuchten und begann, den Boulevard Haussmann hinaufzurollen. Ich näherte mich, um ihn mir genauer anzusehen; eine vermummte, winzig kleine Greisin saß darin; man sah nur ihr dunkles, verschrumpeltes Gesicht, fast nicht mehr menschlich, und eine magere Hand von derselben Farbe, die mühsam die Stange bewegte.“
So beginnt das Buch und so gerät der Ich-Erzähler, ein Taxifahrer und russischer Emigrant, in die Geschichte dieser Greisin und die vieler anderer nächtlicher Gestalten. Er fühlt sich ebenso abgestoßen wie angezogen von diesen Menschen der Nacht, den Verrückten, den Alkoholikern und Halbweltdamen. Immer tiefer gerät er in ihre Geschichten und Lebenswelten und es fällt ihm immer schwerer, die Distanz einzuhalten, zu der er sich gezwungen hatte. In gewisser Weise ähneln sie in ihrer Armut und Verzweiflung seinem eigenen Leben.
Fragen nach dem Sinn des Lebens
Was heißt „Leben“ unter diesen Bedingungen? Was ist, kann der Sinn des Lebens sein, zumal dieses Lebens in Armut und Verzweiflung? Die Fragen treiben den Ich-Erzähler um. Und so fährt er allnächtlich durch Paris, erzählt von seinen Begegnungen mit den Ärmsten der Armen, nimmt den Leser/die Leserin mit auf seine Reisen durch die Stadt, durch sein Leben und das der Menschen, die ihm dabei begegnen. Und so wenig er sich ihnen entziehen kann, so wenig können Leser und Leserinnen von heute sich ihm und seinen Fahrten durch die Dunkelheit entziehen. Und so folgen sie ihm auf seinen nächtlichen Wegen und werden dabei an die eigenen Nachterfahrungen erinnert. Eine gute Gelegenheit, sich ihnen zuzuwenden.
Dunkelheit ist nicht gleich Dunkelheit
Eine Kollegin schenkte mir das Buch mit den Worten: "Ich glaube, du kannst etwas damit anfangen." Da hatte sie Recht. Es ist ein Buch, das man immer wieder lesen kann. Nächtliche Wege sind es, auf denen man sich bewegt, ja. Doch irgendwie ist die Dunkelheit nicht nur dunkel. "Auch Schatten leuchten in schwärzrer Umgebung" sagt Joachim Ringelnatz in seinem Gedicht "Im Weinhausgarten". Und manchmal sieht man in der Dunkelheit besser als im Hellen. Vor allem kommt zum Vorschein, was sonst immer verdeckt wird, zugedeckt, nicht wahrgenommen, verdrängt wird. Was ist mit einer moralischen Orientierung? Gibt es sie? Sich auf diese Fragen einzulassen lohnt sich. Ein gutes Geschenk hat mir meine Kollegin gemacht.
Weitere Bücher von Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf (2012); Ein Abend bei Claire (2014); Die Rückkehr des Buddha (2016); Glück (Hander Box, 2016)
Hanser - 2018 - Buch
1131
Hahn, Ulla
Ulla Hahn - Aufbruch
Schriftstellerin, Romanautorin, Lyrikerin
In vier Bänden erzählt Ulla Hahn (geb. 30.4.1945 in Brachthausen, Sauerland, aufgewachsen in Monheim, Rheinland) die Geschichte ihrer Protagonistin Hilla Palm, ihrer Familie, ihr Leben und Treiben - und mit ihr die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis weit in die 1970er Jahre. Der erste Band „Das verborgene Wort“ erschien 2001, der zweite „Aufbruch“ 2009, der dritte „Spiel der Zeit“ 2014 und der Abschlussband „Wir werden erwartet“ 2017, alle Deutsche Verlags-Anstalt München, die Taschenbücher teils bei DTV oder dem Penguin-Verlag.
Aufbruch
Hilla Palm hat sich durchgesetzt: Sie darf das Aufbaugymnasium besuchen. Sie und Bruder Bertram bilden eine verschworene Gemeinschaft, unterstützen sich, wo sie können. So schwierig die Kindheit für Hilla war, erfährt sie in diesem Band Anerkennung und Anteilnahme. Sogar bei ihren Eltern, insbesondere dem Vater, deutet sich ein Gesinnungswandel an. Wir sind in den 1960er Jahren angelangt.
Neben ersten Kontakten zu gleichaltrigen oder etwas älteren Jungen sind es doch weiterhin Bücher, die Hillas inneres und äußeres Leben bestimmen. Wortsüchtig, wie sie immer war, hat sie nun die allgemeine Erlaubnis, auch im Elternhaus, sich mit Literatur und ihren geliebten Wörtern zu beschäftigen. In den Ferien arbeitet sie bei Maternus, einer Fabrik am Ort, um sich etwas Geld zu verdienen. Die Frauen hier kennt sie noch von früher, als sie schon einmal während der Ferien dort arbeitete. Im Gegensatz zu damals verwirren die Reden und Lebensweisheiten bzw. Schwierigkeiten der Frauen sie nicht mehr. Diese Gespräche, bei denen sie meistens Zuhörerin ist, helfen ihr, bringen sie mit den wichtigen Themen von Frauen in Berührung: Sexualität, Verhütung, (ungewollte) Schwangerschaften und wie Frau sie loswird – oder nicht. Hier kann sie fürs Leben lernen, was ihr dann in einer schweren Krise weiterhilft.
Die Diskrepanz zwischen ihrem ärmlichen Zuhause, den Eltern, die keinerlei weitergehende Bildung erfahren haben, und der Schule, den Jugendlichen aus begüterten Familien, ist schwer zu überbrücken, doch Hilla laviert geschickt zwischen den Welten: Zuhause Dialekt, in der Schule Hochdeutsch. Sie ist eine gute Schülerin. Eltern und Großmutter reagieren immer weniger aggressiv und abwertend. Hilla erkennt, dass in ihrer Familie nicht alles schlecht ist, und reagiert empfindlich auf diejenigen, die auf sie herabsehen bzw. sie aus diesem „Loch“, wie Godehard es nennt, herausholen wollen. Godehard, ein junger Mann aus reichem Elternhaus, wirbt um sie. Sie weist ihn zurück, weil er ihre Familie als primitiv klassifiziert. Insgesamt ist also alles auf einem guten Weg. Hillas Plan: Wenn sie mit der Schule fertig ist, will sie nach Köln und studieren. Sie kommt heraus aus Dondorf, ohne es zu verleugnen.
Doch dann bricht in diese schöne Stimmung und Planung eine schreckliche Wirklichkeit, die Hilla auf lange Zeit völlig aus der Bahn wirft. Sie gibt sich selbst die Schuld an dem Geschehen, wiewohl sie objektiv gesehen Opfer ist. Doch die Sexualmoral der damaligen Zeit war rigoros. Hilla hat Angst, über das, was ihr angetan wurde, mit den Eltern oder irgendjemand zu sprechen. Sie nennt sich „Hilla Selberschuld“, wird krank, ein Schluckauf quält sie. Das Leid und die Angst wollen aus ihr heraus, aber sie verbietet sich jegliches Wort, vor allem das eine, das präzise beschreiben würde, was ihr widerfahren ist, schluckt es herunter und ein wütender Schluckauf ist das Resultat. Hilla traut ihren geliebten Wörtern nicht mehr, lässt keine Dichtung, keine Literatur an sich heran. Sie fühlt sich ihrer nicht würdig und hat gleichzeitig Angst, von Emotionen überwältigt zu werden, wenn sie sich auf die Bücher einlässt. Immer wieder bricht sie zusammen, vertraut sich keinem an. Ihre größte Angst: Die Eltern könnten sie schlagen bzw. sie von der Schule nehmen. Dennoch schafft sie das Abitur, allerdings nun zu erschwerten Konditionen. Köln wartet und mit Hilfe sogar des Vaters und der Tatkraft der Großmutter ist alles geregelt – Hilla bekommt ein Zimmer im Hildegardis-Kolleg, das katholische Studentinnen aufnimmt.
Auch Dondorf und seine Menschen ändern sich
Wie zu Anfang erwähnt: In Dondorf ändert sich einiges und die Menschen verändern sich. Ein Supermarkt wird eröffnet, die Menschen kaufen nicht mehr nur im Tante-Emma-Laden um die Ecke ein. Das Fernsehen hält Einzug - vorerst mit nur einem Programm. Im Haus wird eine Wasserleitung installiert, später kommen Waschmaschine und andere Geräte dazu. Das Leben wird leichter, wenn auch die Familie immer noch am Existenzminimum laviert. Das II Vatikanum mit seinen Änderungen schlägt in Dondorf und in der Familie hohe Wellen und stößt zunächst auf Ablehnung vor allem bei den Älteren.
Ein wichtiges Thema im Buch sind die Frankfurter Ausschwitzprozesse und die Reaktion darauf. Ein Projekt in der Schule, bei dem die Schüler und Schülerinnen Familienangehörige zu dieser Zeit befragen sollen, stößt bei einigen Eltern auf wenig Gegenliebe. Die Jugendlichen lassen sich allerdings davon nicht beirren und machen weiter. Hier macht Hilla die Erfahrung, dass ihre Familie (Eltern und Großeltern), im Gegensatz zu anderen im Dorf, keine Nazis waren. Die Gespräche mit Mutter und Großmutter lassen sie Hilla in etwas anderem Licht erscheinen und eine vorsichtige Annäherung geschieht.
Auch der Vater verändert sich und in einem Gespräch mit Hilla erzählt er von seiner schweren Kindheit und Jugend, die sie ratlos zurücklassen. Einerseits berührt sie die Geschichte des Vaters, andererseits erscheint ihr auf diesem Hintergrund seine frühere Brutalität insbesondere ihr gegenüber vollends unverständlich. Jahre später – eher zufällig – noch einmal mit seinem Verhalten konfrontiert, bricht der Vater zusammen: Dass er zu einem solch schrecklichen Verhalten fähig war, ist ihm selbst nun unverständlich. Es tut ihm alles furchtbar leid. Wenn auch nichts ungeschehen gemacht werden kann, so hilft es Hilla gleichwohl, ihm zu verzeihen und ihren Frieden mit ihm zu machen.
Arbeit an einem neuen Leben – Aufbruch in eine neue Zeit
Im Gegensatz zu „Das verborgene Wort“ hat mich „Aufbruch“ sofort angesprochen und fasziniert. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass Hillas Jugend sich stetig positiver anlässt, sie ihren Weg gehen kann – nicht einfach, nicht ohne Hürden und Ängste, aber sie boxt sich durch.
Ich war auch fasziniert von der Vielzahl der Themen: Erziehung generell bzw. Mädchen-Jungen; Rolle der Nachkriegs- bzw. Vorkriegszeit; die Lebenssituation der 50er und 60er Jahre, die Religion (und das II. Vatikanum); Armut; Sexualität/Moral; Eltern-Kind-Beziehung, Eheleute untereinander; Körperlichkeit; NS-Vergangenheit; politische Situation der Zeit; Rolle des Dialekts, der Hochsprache; was es heißt, „dat kenk von nem Prolete“ zu sein. Diese Themen wirken auf mich nicht aufgepfropft, sondern geben die Lebenswirklichkeit, das Lebensgefühl der 1960er Jahre in der Bundesrepublik sehr gut wieder. Vieles war mir vertraut und ich konnte mich gut im Buch zurechtfinden.
War der Dialekt im ersten Buch eher roh und wirkte manchmal auch primitiv, so bekommt er nun eine andere Färbung: Er verliert das Rohe und Brutale, wird etwas milder – weil die ProtagonistInnen milder werden. Ulla Hahn gelingen verschiedene Kabinettstückchen, die einen lachen lassen und einfach witzig sind: Wenn Hilla und Bertram der Mutter, Großmutter und Tante (Schwester der Mutter) Bildung schmackhaft machen, in dem sie ihnen erklären, dass auch sie Latein sprechen können – dank des lateinischen Gottesdienstes und der vielen Ausdrücke aus dem Lateinischen, die in die deutsche Sprache eingegangen sind. Oder Hilla zeigt Mutter und Tante anhand des Quelle-Kataloges, wie gut sie ebenso schon Englisch verstehen. Tantes Tochter, Cousine Hanni, sekundiert den Geschwistern gerne und hat ihren Spaß am Geschehen. Das gilt auch für die Leser:innen.
Es lohnt sich, Hillas Strategie, mit dem Geschehen umzugehen, das sie fast aus der Bahn wirft, genauer anzusehen. Es ist eine radikale, nahezu selbstzerstörerische Art der Bestrafung. Eine Strategie, wie sie oft bei Mädchen oder Frauen in ähnlicher Situation zu finden ist. Leider und bis heute. Überaus eindrücklich schildert Ulla Hahn die Folgen einer Vergewaltigung, seelisch-geistige genauso wie körperliche. Heilung erfährt Hilla erst viel später und in der Zwischenzeit richtet sie sich ein in ihrer Welt, in der nur noch Vernunft und Verstand zugelassen sind. Sie funktioniert, achtet auf jedes ihrer Worte, ihrer Schritte, errichtet hohe Mauern um sich. Auf diese Weise überlebt sie und kann weitergehen. Es dauert lange, bis sie sich selbst verzeihen und wieder auf andere Menschen einlassen kann. „Lommer jonn“ – „dat kenk von nem Prolete“ lässt sich nicht unterkriegen.
Eine Reise in die Bundesrepublik der 1960er Jahre, so weit und doch so nah.
Spannend, berührend, turbulent, lebensecht, wahr und immer wieder aktuell.
Deutsche Verlags-Anstalt; dtv - 2009/2011 - Buch
1130
Hahn, Ulla
Ulla Hahn - Das verborgene Wort
Ulla Hahn - Lyrikerin, Romanautorin
In vier Bänden erzählt Ulla Hahn (geb. 30.4.1945 in Brachthausen, Sauerland, aufgewachsen in Monheim, Rheinland) die Geschichte ihrer Protagonistin Hilla Palm, ihrer Familie, ihr Leben und Treiben - und mit ihr die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis weit in die 1970er Jahre. Der erste Band „Das verborgene Wort“ erschien 2001, der zweite „Aufbruch“ 2009, der dritte „Spiel der Zeit“ 2014 und der Abschlussband „Wir werden erwartet“ 2017, alle Deutsche Verlags-Anstalt München, die Taschenbücher teils bei DTV oder dem Penguin-Verlag.
Inhalt: Das verborgene Wort
Hilla Palm, lt. Klappentext in der Taschenbuchausgabege geb. 1945, wächst in Dondorf auf, einem Ort im Rheinland. Die Rhein-Idylle trügt, denn Hillas Eltern sind arm, der Vater ist Hilfsarbeiter, die Mutter geht putzten. Beide konnten (durften) wegen des Krieges und anderer Umstände nie einen Beruf erlernen. Infolgedessen firmieren sie unter „Proleten“ – und damit ist nicht stolzer Arbeiteradel gemeint, sondern die Bezeichnung für die unteren bzw. untersten Schichten. Zur Familie gehören noch die Großmutter und der Großvater, Eltern der Mutter, denen auch das kleine Haus gehört, in dem sie leben. Weiter gibt es noch eine Schwester der Mutter sowie deren Tochter und andere weitläufige Verwandte, u.a. den Stiefvater und andere Verwandte von Hillas Vater, die in teils deutlich besseren finanziellen Verhältnissen leben.
Hilla und ihr jüngerer Bruder Bertram sind sehr begabt, gute Schüler und streben nach dem, was ihren Eltern verwehrt wurde: Bildung und ein besseres Leben, am liebsten weit weg von der Enge des Dorfes mit seinen festgefahrenen Strukturen, einem ängstlichen Katholizismus, vorgegebenen, nie hinterfragten Dogmen und Vorgaben für ein anständiges Leben, ständig misstrauisch beäugt und bewertet von der Dorfgemeinschaft.
Was bei Bertram akzeptiert wird – er, als Junge und Sohn, darf auf ein Gymnasium gehen, lehnen die Eltern und die Großmutter bei Hilla, als Mädchen und Tochter, strikt ab. Insgesamt ist ihnen die Tochter eher verdächtig mit ihrer Intelligenz und dem Wunsch nach Bildung. So werden jedes Aufbegehren und jeder Versuch in dieser Richtung rigoros, teils mit heftigen Schlägen durch den Vater, unterbunden. Einzig der Großvater hilft ihr und ist für Hilla eine Art Schutz und Schirm. „Lommer jonn“ sagt der Großvater jedes Mal, wenn er mit den Kindern an den Rhein geht, erklärt ihnen die Natur und schenkt ihnen eine Vielzahl an Steinen aus dem Fluss, erzählt dazu Geschichten und verbindet die Steine mit Buchstaben und Büchern zu so genannten „Buchsteinen“, die vor allem für Hilla eine lebenslange Bedeutung erhalten. Dieses „Lommer jonn“ zieht sich durch alle vier Bände und wirkt wie ein Leitmotiv bis zum Schluss des Bandes „Wir werden erwartet“. Leider stirbt der Großvater früh und Hilla ist auf Bruder Bertram angewiesen, der ihr soweit möglich zur Seite steht. Auch Lehrer und selbst der Pfarrer versuchen, die Eltern von Hillas Talent zu überzeugen, lange Zeit vergeblich.
Die Faszination des Mädchens für Wörter, für Literatur bricht sich immer wieder Bahn. Sie lässt nicht locker und trotzt sich nach und nach mehr Freiraum ab. Der Vater verbietet den Besuch des Gymnasiums, sie darf die Realschule abschließen, dann muss sie die Schule verlassen – als Klassenbeste - und eine Lehre als Bürokauffrau machen: Sie ist ein Mädchen, Bildung für Mädchen lohnt sich nicht, die sollen heiraten und Kinder bekommen, mehr ist für sie nicht drin. Abgesehen davon muss die Familie bei besser gestellten Honoratioren des Dorfes um ein Stipendium anfragen, was die Eltern und Großmutter als Betteln empfinden. Doch schließlich gibt der Vater dem Drängen des Lehrers und des Pfarrers nach und Hilla darf, nachdem sie die Lehre erfolgreich abgeschlossen hat, das Aufbaugymnasium besuchen. Das Schulgeld wird mittels Stipendium gestellt, in den Ferien arbeitet sie in einer Fabrik als Arbeiterin am Fließband und verdient sich ein wenig dazu.
Eine schwere Herausforderung
Ich habe mich diesem Buch lange verweigert und auch den Fernsehfilm dazu nicht angesehen. Ich konnte/wollte die Brutalität des Vaters überhaupt nicht begreifen, noch weniger ertragen. Erst nachdem ich „Aufbruch“ mit wachsendem Interesse gelesen hatte sowie die noch folgenden Bände, traute ich mich an „Das verborgene Wort“ heran. Es ist ein großartiges Buch, überaus nahe an dem Kind Hilla. Ich konnte sie absolut verstehen und immer mehr ihren Mut bewundern, blind dem zu vertrauen, was sich ihr als ihre ganz eigene Welt offenbarte, (fast) gegen die ganze Welt und gegen alle Chancen. Es gibt, wie oben erwähnt, einige Menschen, die ihr zugewandt sind, die ihr helfen wollen, z.B. der Großvater, Lehrer und der Pfarrer, die Kindergartenleiterin und sogar einige Menschen von außen. Doch gegen die Eltern und die Großmutter ist kein Ankommen. Nur manchmal bricht die Phalanx auf, zeigt der Vater vor allem ein anderes Gesicht. Am Schluss überzeugen Lehrer und Pfarrer die Mutter, die Großmutter und vor allem den Vater (dem keine andere Wahl mehr bleibt), Hilla das Aufbaugymnasium besuchen zu lassen.
Doch das Buch ist nicht nur schwer und schwierig in seinem Inhalt. Es ist ein genauer Spiegel der damaligen Nachkriegszeit und der Menschen, die selbst hin- und hergerissen sind durch den Krieg und die NS-Zeit. Auch in Dondorf gab es Nazis, die schlimme Verbrechen begangen haben, und dennoch nach dem Krieg in ihren Positionen bleiben durften – geachtete Mitmenschen, von denen alle wussten, was sie in der Hitler-Zeit getan hatten. Selbstverständlich gab es keinerlei Aufklärung oder nur so halb, schwer einzuordnen für die Kinder. Auch andere Aufklärung fand nicht statt und über allem schwebte der althergebrachte Katholizismus, besonders ausgeprägt bei der Großmutter. Diese Art der Religiosität sorgt immer wieder für merkwürdige Situationen und komische Geschichten, wiewohl sie nicht so gemeint sind. Das Übrige tut der rheinische Dialekt, der damals allgemein üblich war. Denn die wenigsten sprachen Hochdeutsch, und selbst das nur mit deutlich rheinischem Einschlag.Allerdings wirkt der Dialekt hier oft roh und brutal, so, wie die Menschen sich verhalten. Ob diese Rohheit auch mit dem vorausgegangenen Nazi-Zeit bzw. dem Krieg zu tun hat – wer weiß?
Herausforderung angenommen - Fazit
Ein Buch, dass berührt, ans Herz geht, herausfordert, sich mit der eigenen (Familien-) Geschichte auseinanderzusetzen und sich die Gretchenfrage zu stellen: Wie hältst du es mit….?
Deutsche Verlangs-Anstalt/dtv - 2001/2003 - Buch
1128
Hansen, Dörte
Buch - Mittagsstunde
Spezialistin für Leben auf dem Land, Festland oder Inseln. Besonderheit: Liebt Mundart, skurrile, kantige und wetterfeste Charaktere. Leichter Hang zu Melancholie mit einer Prise bzw. Seebrise Humor, trocken und gut gegen steife Lebenskrisen.
Dörte Hansen, Jahrgang 1964, Journalistin und Autorin, Jahrgang 1964, geboren in Husum
Miitagsstunde - die heilige Zeit auf dem Dorf
Mittagsstunde – das ist die heilige Zeit auf dem Dorf in den 1960er Jahren. Alles muss still sein, wenn die seit den Morgenstunden arbeitenden Landmenschen eine Pause, ihre Mittagspause, einlegen. Alle Kinder auf dem Dorf wissen das und halten sich daran. So war das und so blieb das lange Zeit. Daran erinnert sich Ingwer Feddersen noch gut. Auf dem Land, in einem kleinen Dorf namens Brinkebüll ist er aufgewachsen. Seit langem lebt er in Kiel, hat das Dorf und seine Leute mit ihren Geschichten verlassen, studiert, Archäologie, lebt mit zwei Freunden aus alten Tagen zusammen in einer WG. Er ist mittlerweile mehr als vierzig Jahre alt und hat das Gefühl, in einer Falle zu stecken. Es wird Zeit für ihn, wenn er aus seinem Leben noch etwas machen möchte und nicht weiter in der WG vor sich hin dümpeln will, einer WG, die sich längst überlebt hat.
Ingwer entscheidet sich für ein Sabbatical, ein Jahr Auszeit, und kehrt nach Brinkebüll zurück, zu seinen Großeltern, die ihn aufgezogen haben, weil seine Mutter dazu nicht in der Lage war. Nun sind sie alt geworden und brauchen seine Hilfe. Das, was sich schon in seiner Kindheit angekündigt hat, ist überall umgesetzt worden: Der Strukturwandel auf dem Land mit seinen Folgen für Mensch, Tier und Landschaft – positiv für die einen, negativ für die anderen. Mit seiner Rückkehr beginnt für Ingwer eine Reise in die Vergangenheit, er entdeckt Familiengeheimnisse, die alle, außer ihm, kannten. Ohne es bewusst zu wollen, beginnt er aufzuräumen in seinem Leben und seiner Vergangenheit. Was am Ende dabei herauskommt – das zu entdecken und zu entscheiden bleibt der geneigten Leserschaft überlassen.
Der Film: Mittagsstunde
Der Film aus dem Jahr 2022 ist absolut sehenswert. Charly Hübner verkörpert Ingwer Feddersen wunderbar einfühlsam und vermag mit seinem Spiel ein ganzes Innenleben aufscheinen zu lassen. Die anderen Mitstreiter und Mitstreiterinnen stehen ihm in nichts nach. Ein Kleinod.
Die DVD hat einiges Wissenswertes in den Features dabei, die es sich lohnt anzuschauen.
Darsteller: Charly Hübner, Gro Swantje Kohlhoff, Lennard Conrad, Hildegard Schmahl, Peter Franke, Gabriela Maria Schmeide, Reiner Bock
Regie: Lars Jessen nach dem Roman von Dörte Hansen, 2022
Buch und Film - passt scho...
Ein schönes Buch, spannend, berührend, wohltuend unsentimental, mit feinen Landschaftsbeschreibungen und Charakteren, die ich einfach mögen muss. Und der Film passt wunderbar dazu.
Penguin-Verlag - 2018 - Buch
1042
Jarawan, Pierre
Am Ende bleiben die Zedern
Roman - Berlin Verlag 2016, Erstveröffentlichung
Zur Person
Pierre Jarawan, geb. 1985 als Sohn einer deutschen Mutter und eines libanesischen Vater. Die Eltern flohen vor dem Bürgerkrieg im Libanon zuerst nach Jordanien, wo er geboren wurde. Im Alter von drei Jahren kamen er und seine Familie nach Deutschland. Seit 2009 trat er bei verschiedenen Poetry-Slams auf, 2013 war er bei der Poetry-Weltmeisterschaft in Paris dabei. Er ist sehr erfolgreich als Bühnenpoet. Für seinen Roman erhielt er 2016 den Bayerischen Kunstförderpreis. Das Buch war in Deutschland und in Holland sehr erfolgreich.
Handlung
Samir, dessen Eltern aus dem Libanon wegen des Bürgerkrieges geflohen waren, liebt seinen Vater abgöttisch. Er ist sein großes Vorbild, ist ihm Freundersatz, sein Ein und Alles. Der Vater kann wunderbar Geschichten erzählen und verkörpert für Samir den Inbegriff von Geborgenheit und Liebe. Seine Familie lebt in einer deutschen Stadt, in einem Viertel, in dem viele Migranten wohnen mit ähnlichen Geschichten und ähnlicher Herkunft. So stellt seine Straße für Samir und seine Familie eine Art Heimat in einem fremden Land dar.
Eines Tages verschwindet der Vater, lässt von einem auf den anderen Tag die Familie zurück, die von nun an sehen muss, wie sie zurechtkommt. Die Mutter spielt dabei eine große Rolle und der Freund der Familie, Hakim mit seiner Tochter Yasmin. Warum und wohin der Vater gegangen ist, weiß niemand. Hakim wüsste es vielleicht, aber er schweigt.
Samir, durch den Verlust des Vaters völlig aus der Bahn geworfen, kapselt sich mehr und mehr ab. Die deutsche Gesellschaft ist für ihn nur durch Schule, später Studium und dann Arbeit präsent. Alle Versuche seiner Familie oder Hakims mit Yasmin, ihn aus seiner Isolation zu holen, scheitern. Als dann auch noch die ihm so wichtige Beziehung zu Yasmin zu zerbrechen droht, erkennt er, dass er sich auf die Suche nach dem Vater machen muss. Ohne das Wissen, warum der Vater ihn und die Familie verlassen hat, kann er nicht zu sich selbst und einem freieren Leben finden.
Als Erwachsener macht sich Samir auf in den Libanon. Was er dort erfährt, was ihm dort widerfährt, verändert sein Leben und seine Sicht auf sich selbst, den Vater und natürlich den Libanon und seine Geschichte.
Die Geschichte ist sehr spannend und einfühlsam erzählt. Man kann das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Und erfährt eine Menge über den Libanon und seine Geschichte, über die wechselnden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Auch kann man am Ende viel besser verstehen, wie sich Menschen mit Samirs Hintergrund in Deutschland fühlen, welchen Konflikten sie ausgesetzt sind, mit welchen Erfahrungen sie zu kämpfen haben, insbesondere die ihrer Eltern, und mit welchen Vorurteilen. Wie unterschiedlich die Kinder von Migranten mit ihrer Situation umgehen, zeigt z.B. Samirs Schwester Alina. Sie ist viel jünger, hat den Vater wenig kennengelernt und wächst ganz anders auf als Samir. Sie hat viel weniger Schwierigkeiten, sich in der deutschen Gesellschaft zurechtzufinden. Das Buch sollten viele lesen, die immer glauben, Migranten wollten sich nicht integrieren. Vielleicht würden sie dann ein wenig anders denken. Hoffentlich.
Piper Verlag,Taschenbuch - 2018 - Buch
1025
Jefferson, Margo
Über Michael Jackson
geb. 1947, Universtätsprofessorin, Theaterkritikerin, Journalistin, Schriftstellerin - Auflage: 5. Aktual.
Intelligent, witzig - klasse
Es ist ein Buch für Leute, die sich wirklich für Michael Jackson interessieren, die ihn nicht nur anbeten oder verherrlichen wollen. Margo Jefferson's Buch ist intelligent, witzig, klar-sehend und wird ihm gerecht - gerade, weil sie kritisch ist, weil sie nichts schön redet.
Sie schreibt über seine Kindheit, seine Familie, das Leben als Kinderstar mit Licht- und Schattenseiten, beleuchtet die Musikszene, in der Michael Jackson groß geworden ist, bietet viel Hintergrundinformationen dazu (auch politisch, u.a. die Rolle der schwarzen Bevölkerung bzw. Künstler in den USA), setzt sich kritisch mit seinem oft exzentrischen Verhalten auseinander und auch mit den Missbrauchsvorwürfen gegen ihn. Ich fand insbesondere erhellend den Hinweis auf die Figur des Peter Pan, von der Michael Jackson erwiesenermaßen fasziniert war - mit all ihren positiven wie negativen Implikationen.
ich wichtig, aber nicht ganz zutreffend finde, sind Margo Jeffersons Anmerkungen bzgl. der zunehmenden Weiße der Haut Michael Jacksons - da hätte sie stärker seine Hautkrankheiten (wie z.B. Vitiligo) beachten müssen. M.E. sind deren Auswirkungen für sein Leben und seine Psyche bislang nie wirklich in den Blick genommen worden.
Wenn jemand von schwarz zu weiß wird durch eine Erkrankung, bringt das sicherlich Identitätsprobleme mit sich - die dürften um so schwerwiegender für Michael Jackson gewesen sein, weil er permanent in der Öffentlichkeit präsent war, man ihm nicht geglaubt und sich hämisch über dieses "Weißwerden" geäußert hat. Er hat sich nicht ganz freiwillig "neu" erfunden und definiert und über seine Hautfarbe hinweg gesetzt, wie Jefferson schreibt, sondern das war auch seine Reaktion auf die Erkrankung. Trotzdem sind ihre Gedanken dazu lesens- und nachdenkenswert.
Margo Jefferson hat mehr Verständnis für den Menschen und Künstler Michael Jackson als so viele seiner Fans, die sich in Anbetung erschöpfen und von ihm Erlösung ihrer seelischen und sonstigen Gebrechen erhoffen. Wer noch mehr Gehaltvolles zu Michael Jackson lesen will, dem sei Jochen Ebmeiers Buch empfohlen: Michael Jackson - Das Phänomen. Das Buch ist zwar schon 1999 erschienen und leider vergriffen (vielleicht gibt es ja doch einige Bibliotheken, die es damals angeschafft haben). Er ist ein bekennender Fan, was ihn aber nicht gehindert hat, dieses Buch zu schreiben, klug, sachlich, feinfühlig und sehr kenntnisreich.
Berlin Verlag Taschenbuch - 2009 - Buch
1063
Kizilhan, Jan Ilhan
Nachtfahrt der Seele - Von einem, der auszog, das Licht zu suchen
mit Alexandra Cavelius
Zur Person
Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan (geboren 1966 in Türkisch-Kurdistan) kam 1973 mit seinen Eltern in die Bundesrepublik Deutschland. Er ist ein international anerkannter Experte der Transkulturellen Psychiatrie und Traumatolagie, Orientalist und Psychologe. Er leitet den Studiengang „Soziale Arbeit – Psychische Gesundheit und Sucht“ an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. In Donaueschingen verantwortet er fachlich die transkulturelle psychosomatische Rehabilitation an der Klinik MediClin Klinik am Vogelsang. Er kümmert sich seit Jahren um Kriegsopfer bzw. Opfer der Terrormiliz IS, insbesondere um Mädchen und Frauen der Volksgruppe der Jesiden (Schreibweise ist unterschiedlich). Mit Unterstützung der Regierung des Landes Baden Württemberg gelang es ihm und seinen Helfern, mehr als 1000 Jesidinnen aus den Kriegsgebieten zu retten und nach Deutschland zu bringen, wo versucht wird, ihnen bei der Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrungen zu helfen, sie psychologisch zu betreuen sowie ihnen einen Start in ein neues Leben zu ermöglichen. Er bekam für sein Engagement u.a. den Womens's Rights Award 2016, 2016 den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg und den Ramer Award for Courage in the Defence of Democracy des American Jewish Committee.
Zudem ist er Autor weiterer Bücher wie „Das Lied der endlosen Trockenheit – Ein Roman aus den kurdischen Bergen“ (Europaverlag 2017) und mit Alexandra Cavelius „Die Psychologie des IS“.

Alexandra Cavelius ist freie Autorin und Journalistin, Autorin politischer Sachbücher wie „Die Zeit der Wölfe“ oder des Buches „Die Himmelsstürmerin und Leila – ein bosnisches Mädchen“ u.a. Mit Jan Ilhan Kizilhan zusammen schrieb sie die Spiegelbestseller über den Islamischen Staat „Ich bleibe eine Tochter des Lichts“ und „Die Psychologie des IS“.
Inhalt
In seinem Buch „Nachtfahrt der Seele – von einem, der auszog, das Licht zu suchen“ beschreibt Jan Ilhan Kizilhan, wie er, ein viel beschäftigter und international anerkannter Psychologe, im Winter 2010 in eine tiefe Sinn- und Lebenskrise gerät. Im Hamsterrad seiner vielen Verpflichtungen und Verantortlichkeiten von ganz unterschiedlichen Seiten mehr und mehr gefangen, fühlt er sich zunehmend leer und beginnt, an sich selbst und seinen Fähigkeiten bzw. am Sinn seines Tuns zu zweifeln. Ist der eingeschlagene Weg richtig, kann er wirklich bei seinen tief traumatisierten Patienten und Patientinnen etwas Postitves bewirken? „Am Tage merkte ich oft nicht, wie sehr ich mich im Gestrüpp dunkler Gedanken verloren hatte. Nachts versank ich in so tiefen Schlaf, dass ich mich morgens an nichts mehr erinnern konnte.“
Kindheit in den Bergen Kurdistans und Leben in Deutschland
Jan Ilhan Kizilhan wurde in eine jesidische Familie hineingeboren, die in den kurdischen Bergen in der Türkei lebte. Von Kindheit an war er mit der Verfolgung und der Missachtung, die dieser Volksgruppe seit Jahrhunderten widerfährt, konfrontiert sowie mit der Armut und dem Mangel an Bildungschancen. Im Alter von ca. sieben Jahren kam er mit seiner Familie nach Deutschland. Er legte eine Art Bilderbuchkarriere mit Studium und glänzenden Noten vor, erarbeitete sich seine gesellschaftliche und berufliche Position in Deutschland mit großer Ausdauer und einem enormen Arbeitspensum. Ein Vorzeigebürger mit Migrationshintergrund.
Leben, Arbeiten, Krisen, Herausforderungen
Das Buch beginnt mit einem Anruf von Journalisten, die Kizilhan im Jahr 2017 bitten, sie mit Zeugen der IS-Verbrechen zusammenzubringen. Trotz seiner vielen Verpflichtungen erklärt er sich bereit, das Fernsehteam zu begleiten. Was sie dort sehen, erschüttert selbst die Journalisten, die schon viel gesehen haben. Kizilhan schildert dann, wie er 2014 begann, sich für die verfolgten Jesiden einzusetzen und ein Rettungsprogramm zu starten, das durch die Hilfe des Landes Baden-Württemberg ermöglicht wurde.
Diese nahezu übermenschliche Aufgabe, der er sich mit seinen Helfern und Helferinnen stellte, wäre vielleicht ohne die vorangegangene durchlittene Lebens- und Sinnkrise nicht zu bewältigen gewesen. Kizilhan beschreibt seine verschiedenen Strategien und Versuche, mit dieser Krise umzugehen, sich in seine Arbeit zu verbeißen und andererseits nach Wegen heraus zu suchen. Er schildert seine Kindheit in Kurdistan, die Eltern, die Familie, die Nachbarn, die Armut, die Unterdrückung und Demütigung durch türkisches Militär und muslimische kurdische Nachbarn. Er beschreibt, wie es ihm und seiner Familie in Deutschland erging, seinen Werdegang und sein Bestreben, in der deutschen Gesellschaft anzukommen, ein geachtetes Leben zu führen. Auch auf die Widersprüche, die ein Leben nach den Glaubenssätzen der Jesiden für die Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft mit sich bringt, geht er ein.
Reise in die Fremde und das eigene Innere
Auf seiner Suche gerät er an einen geheimnisvollen Professor und an eine noch geheimnisvollere Frau, die sein westlich geprägtes wissenschaftliches Welt- und Lebensverständnis völlig auf den Kopf stellen. Immer im Zweifel, ob sich hinter diesen Menschen, wiewohl auch Wissenschaftler, nicht einfach Scharlatane verbergen, lässt er sich doch mehr und mehr auf sie ein, reist sogar in den Iran. Und lernt dort viel über seine eigene Volksgruppe, über deren Vergangenheit und Gegenwart und über alte Religionen und uraltes Heilwissen der Chaldäer, der Anhänger Zarathustras u.a., das im modernen Leben verschüttet worden ist.
Auf dieser „Nachtfahrt der Seele“ kommt er in Berührung mit seinen eigenen Ängsten und Traumata und gelangt zu der Erkenntnis, dass sich diese Traumata aus denen seiner Vorfahren bzw. seiner Volksgruppe speisen. Er erkennt, wie wichtig es ist, seine eigene Geschichte und die seines Volkes zu kennen. Das ist eine Erkenntnis, die sich in der heutigen Forschung mehr und mehr durchsetzt und für menschliche Erfahrungen grundsätzlich gilt, egal, wo auf der Welt.
Zurückgekehrt aus dem Iran gelingt es Kizilhan seine Lebens- und Sinnkrise zu überwinden. Nur vier Jahre später muss er sich der Herausforderung seines Lebens stellen, der Hölle des IS und der Hölle, in der die tief traumatisierten Menschen dort leben. Ohne seine „Nachtfahrt“ wäre dies vielleicht nicht möglich gewesen.
Fazit
Das Buch ist sehr lesenswert, zum einen ist es gut und verständlich geschrieben. Kizilhan und Cavelius nehmen die Leser mit auf diese Reise. Es ist ein Zeugnis für die geistige und seelische Kraft des Menschen und dafür, wie wichtig es ist, sich seinen Ängsten zu stellen, nicht aufzugeben, nicht nachzulassen in seinen Bemühungen und offen zu sein für neue Erfahrungen, auch wenn sie bedeuten, sich auf Altes einzulassen. Mich hat der Titel des Buches sehr angezogen, weil er auf das Märchen der Brüder Grimm anspielt „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“. Kizilhan kann das Licht erst finden, nachdem er sich seinen Ängsten gestellt hat. Und „Nachtfahrt der Seele“ ist ein Terminus, der sich auf die Erfahrungen von Mystikern und Mystikerinnen verschiedener Religionen, insbesondere des Christentums bezieht. Sehr schön fand ich die Zeilen, die dem Buch vorangestellt sind: „Die Menschenseele ist eine Fee, sie verwandelt Stroh in Diamanten, und unter ihrem Zauberstab sprießen Wunderpaläste wie die Feldblumen unter der belebenden Wärme der Sonne empor.“ (Honoré de Balzac).

Jan Ilhan Kizilhan hat auch ein Buch über die Jesiden, ihre Herkunft, Geschichte und Religion geschrieben. Es richtet sich an Kinder, Erwachsene, Jesiden und einfach interessierte Menschen: „Wer sind die Eziden? / Ezidi ki ne?: Ezidische Kinder und Jugendliche stellen Fragen zu ihrer Religion, Identität und Migration“. Deutsch und Kurdisch, VWB-Verlag 2013. Ich habe dieses Buch sehr gerne und mit großem Gewinn gelesen.
Europaverlag - 2018 - Buch
1099
Kürthy, von, Ildikó
Ildiko von Kürthy – Es wird Zeit
Illustrationen von Peter Pichler
Ildikó von Kürthy - erfolgreiche Autorin - geliebt, gelesen, vom Feuilleton vielfach gemieden
Ildikó von Kürthy, Jahrgang 1968, geboren und aufgewachsen in Aachen. Sehr erfolgreiche deutsche Schriftstellerin, Journalistin und Kolumnistin, vielfach ausgezeichnet. Ihre Heldinnen sind junge Frauen und solche, die an der Schwelle zum Alter stehen, die mit Witz und Humor versuchen, ihr Leben zu meistern. Weitere Romane (mittlerweile ca. 12), die vielfach auf den Bestsellerlisten zu finden waren und sind, Auswahl: Mondscheintarif (1999), wurde 2001 für das Kino verfilmt; Herzsprung (2003) Blaue Wunder (2004); Endlich! (2010); Unter dem Herzen (2012); Neuland – Wie ich mich selber suchte und jemand ganz anderen fand (2015);
Es wird Zeit - Lebenskrisen und wie mit ihnen umgehen
Judith wird 50 und soeben ist ihre Mutter, die letzte lebende Person zwischen ihr und dem Alter bzw. dem eigenen Tod, gestorben – Zeit für eine gepflegte Lebensendzeit-Krise. Und die bange Frage: War das alles? Was habe ich aus meinem Leben gemacht? Eine Rückschau drängt sich unabweislich auf: Lebenslügen, die (fast) Wahrheiten wurden? Eine abgebrochene Freundschaft mit Anne, ihrer einstmals besten Freundin. Warum ist das in die Brüche gegangen? Was habe ich falsch gemacht? Was bleibt mir noch? Komme ich aus meinen Lebenslügen heraus? Was kommt noch? Kommt überhaupt noch etwas? Gibt es Möglichkeiten der Veränderung? Zukunftsperspektiven? Mit Blick auf Krankheit, Alter und Tod????
Diese und andere Fragen beschäftigen die angehende Fünfzigerin. Wie sie das erlebt, davor flieht, zurückkehrt, wie die Katze um den heißen Brei herumstreicht und dann in den entscheidenden Situationen nicht davonläuft, sondern sich – zu ihrem eigenen Erstaunen – den Herausforderungen stellt – das alles schreibt Ildiko von Kürthy witzig, ernsthaft, spannend, einfühlsam und berührend.
Das Ende kommt doch öfter später als befürchtet
Ich kannte Ildikó von Kürthy bislang nur vom Namen her und hatte irgendwie im Kopf, sie sei Autorin eher seichter Romane – wie im Feuilleton gerne vermerkt. Umso überraschter war ich, als ich Dennis Scheck mit einer Empfehlung für dieses Buch hörte und sah. Na, dachte ich, dann schaue ich doch mal genauer hin.
Ich wurde nicht enttäuscht. Mich hat das Buch sehr angesprochen. Es ist turbulent, humorvoll, komisch und sehr ernst zugleich. Frau (vielleicht auch Mann) kann sich immer wieder selbst erkennen und sich fragen: Na, wie hältst du es mit deinem Leben? Mit der Wahrheit? Mit Lebenslügen? Wärst du – bist du – bereit, dein Leben umzukrempeln, wenn erforderlich? Dich von dem Vertrauten zu lösen, das nicht nur stört, sondern auch eine Art Sicherheit in der täglichen Routine gibt? Und wenn die nörgelnde, manchmal lustvoll depressive Judith auf die Nerven geht – sei ehrlich, das kennst du doch auch.
Das Buch ist eine liebevolle Aufmunterung, dem Leben immer wieder neue Seiten abzugewinnen, etwas zu wagen (um dann festzustellen, dass es anderen ebenso ergeht) und Vertrauen in sich und die eigene Lebensfähigkeit zu wagen. Und zu lernen, mit Sterben und Tod umzugehen.
Wunderlich - 2019 - Buch
1026
Lawson, Valerie
Mary Poppins - She wrote: The Live of P.L. Travers
Auflage: Export
Pamela Travers und Mary Poppins
Mary Poppins war eine geliebte Begleiterin meiner Kindheit. Auch später habe ich die Bücher immer wieder gelesen, bis heute. Das Filmmusical mit Julie Andrews ist ganz nett, wird aber dem Charakter der Bücher nicht gerecht, weil doch etwas zu süßlich, und letztlich zu oberflächlich. Insbesondere die Zeichentrickelemente waren mir immer zu sehr Walt Disney und hatten mit den Zeichnungen in den Erzählungen nichts gemein, die den oft skurrilen und schrägen Charakteren der Figuren viel näher kamen.
Die phantastische, oft melancholische und geheimnisvolle Welt der Mary Poppins ist viel tiefer als die Hollywood-sterile Weihnachtswunderwelt Walt Disneys ermessen kann.
Pamela Travers alias Helen Goff
Da über Pamela Travers so gut wie nichts bekannt war und ich mich immer gefragt habe, wer und was diese Autorin sein könnte, war ich erfreut, die Biographie von Valerie Lawson zu finden. Ich hatte mit Interesse und Anteilnahme den Film "Saving Mr. Banks" gesehen (mit einer wundervollen Emma Thompson als Pamela Travers), der auf dieser Biographie basiert..
Das Buch ist informativ und gut zu lesen (wenn man Englisch kann). Es zeigt eine Menge an wissenswerten Einzelheiten über die Kindheit und Jugend, über ihren familiären Hintergrund (insbesondere die überforderte Mutter und den Vater, der ein Alkoholiker war).
P.T. lebenslange Sehnsucht und Suche nach einer Vaterfigur wird ebenso thematisiert wie ihre durchaus egoistischen Züge und Neigungen zu spirituellen Führern wie dem griechisch-armenischen Esoteriker Georges I. Gurdjieff oder dem irischen George William Russelll (nannte sich A.E. - eine Abkürzung für eine bestimmte esoterische Ideen).
Pamela Travers – Ihre Figuren aus dem Leben, aus Märchen und ihre eigene Spiritualität
Viele Personen aus Travers Umkreis tauchen in den Büchern wieder auf, die Herkunft vieler märchenhaften Elemente wird deutlich, ihre spirituellen Interessen sowie die durchaus schwierige Beziehung zu Kindern und ihrem Adoptivsohn. Gerade diese zeigt, wie egoistisch und uneinsichtig Travers sein konnte. Ich fand sehr wichtig die Kapitel, in denen Lawson die Transformation von Helen Goff in Pamela L. Travers beschreibt. Travers war einer der Vornamen ihres Vaters. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die Person und den Charakter der Schriftstellerin.
Valerie Lawson bemüht sich, Travers weder zu idealisieren noch zu demontieren. Sie hat viele Zeugnisse zusammengetragen, sagt aber auch an vielen Stellen, dass die Faktenlage nicht so klar ist, weil Travers ihr Privatleben immer unter Verschluss hielt. Da, wo es in den Bereich der Spekulation geht, sagt sie das auch und ist entsprechend vorsichtig. Mit dem Adoptivsohn hat sie selbst sprechen können und er hat ihr auch Zugang zu Informationen gewährt, die von Bedeutung für das Buch sind.
Wie immer bei bewunderten Figuren stellt sich die Frage, ob man ihnen im Leben wirklich begegnen wollte oder sollte. Diese Frage muss natürlich jeder für sich beantworten. Für mich tut der problematische Charakter der Autorin aber meiner Freude an ihren Büchern keinen Abbruch. Er zeigt nur, dass wir es mit Menschen zu tun haben.
Fazit
Wer wirklich etwas über Pamela Travers erfahren möchte, ist mit diesem Buch gut beraten, zumal es meines Wissens die einzige Biographie über Pamela L. Travers ist.
Verlag Pocket - 2013 - Buch
1077
Lenz, Siegfried
Siegfried Lenz - Fundbüro
Erstveröffentlichung 2003 Hoffmann & Campe
Siegried Lenz (geb. 1926 in Ostpreußen) ist bekannt für seine großen zeitkritischen Bücher, die vielfach ausgezeichnet worden sind. Es ist müßig, über seine Erfolge und seine Bedeutung für die Nachkriegsliteratur in Deutschland zu schreiben. Sein Name spricht für sich.
Siegfried Lenz - Fundbüro
Henry Neff, 24 Jahre alt bzw. jung, arbeitet im Fundbüro eines Hauptbahnhofs. Seine Familie und seine Umwelt tun sich schwer mit ihm, denn er ist überhaupt nicht zielstrebig und zeigt kein Interesse an einer wie auch immer gearteten Karriere. Er lebt genügsam und er mag seinen Arbeitsplatz. Hier lernt er viele Menschen kennen, skurrile, einfache, schwierige – alle Arten von Menschen und Lebensgeschichten. Die bedeuten ihm mehr als Reichtum und Ansehen. Sie sind eine andere Art Reichtum. Eines Tages lernt er Fedor Lagutin kennen, einen Russen, der Wert darauflegt, Baschkire zu sein, Angehöriger eines Volkes in Russland. Lagutin ist Mathematiker und als Gast an der Technischen Hochschule an einem Forschungsprogramm beteiligt. Henry und er freunden sich an. Eigentlich lebt Henry ein recht friedliches Leben, aber dann bricht eine andere Realität in sein Leben ein: Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. Diesen muss er sich stellen, aber auch den Problemen an seinem Arbeitsplatz, den Sorgen und Nöten seiner Kollegen. Und da sind noch Barbara, seine Schwester und Paula, die er zunehmend mag.
Menschlichkeit und Humor
Dieses Buch mag ich besonders. Es ist kein großer, historischer Roman, sondern ein kleiner, feiner, voller Menschlichkeit und Humor. Man neigt vielleicht dazu, das Buch zu unterschätzen, gerade weil es so bescheiden, so einfach und natürlich daherkommt. Ich mag Henry und viele der anderen Personen, die nichts Großes tun. Aber im entscheidenden Augenblick zeigen Henry und seine Schwester, dass auf ihre Humanität Verlass ist. Es gibt Situationen im Leben, da muss man sich entscheiden, egal, was passiert. Und Henry tut genau das, worauf es ankommt. Ich muss ihn also mögen.
Dtv - 2005 - Buch
1078
Lenz, Siegfried
Zaungast
Erstveröffentlichung 2002 Verlag Hoffmann und Campe
Siegfried Lenz ist der Zaungast. Auf seinen Reisen lernt er die seltsamsten und aberwitzigsten Menschen und ihre Lebensgeschichten kennen: Ob Hamburg, Japan, die USA, Australien, Finnland, Spanien und nicht zuletzt Jütland – immer erzählt Lenz humorvoll, witzig, ernsthaft von diesen Begegnungen. Ob er die Folterungen bei einer Jütländischen Kaffeetafel beschreibt (was es da alles zu essen gibt und was alles gegessen werden muss – deshalb Folter), von einem Vogel erzählt, der lachen kann, oder merkwürdige Begebenheiten in einer spanischen Bodega am Ende der Welt schildert – immer macht es Spaß, mit ihm unterwegs zu sein, sich in die entlegensten Orte der Welt entführen zu lassen und die merkwürdigsten Menschen kennen zu lernen. Und das alles in einer Sprache, die es sich erlauben kann und erlaubt, einfach, geradlinig, schnörkellos, ja absichtslos scheinend zu sprechen. In dieser Einfachheit liegt eine grandiose Meisterschaft des Erzählens.
Dtv - 2006 - Buch
1034
Livaneli, Zülfü
Glückseligkeit
gebundene Ausgabe - Roman
aus dem Türkischen von Wolfgang Riemann
Inhalt
Das Buch beginnt mit dem Satz: „Meryem schlief den Schlaf einer Siebzehnjährigen.“ Das Mädchen findet sich eingesperrt in einem Raum, allein und verlassen. Sie weiß nicht, warum ihr das geschehen ist, sie weiß nicht, was weiter geschehen wird. Sie spürt, etwas ist verändert in ihr, aber was das ist, weiß sie nicht genau. Nur in ihren Alpträumen offenbart sich ihr, was ihr widerfahren ist. Ansonsten ist alles verdrängt.
Die Familie hat beschlossen, dass nicht der Iman, der sie vergewaltigt hat, der Schuldige ist, sondern Meryem. Niemand erhebt sich gegen einen heiligen Mann. Alle wissen Bescheid, aber niemand hilft ihr. Im Gegenteil: Die Familie erwartet, dass sie sich selbst tötet, um die Ehre wiederherzustellen.
Das ist die eine Ebene, auf der der Roman spielt. Dann gibt es Meryems Cousin Cemal. Er ist Soldat und kehrt gerade aus einem Krieg gegen die PKK zurück. Selbst zutiefst verunsichert über seine Erfahrungen und traumatisiert, soll er seine Cousine aus dem Dorf schaffen und dafür sorgen, dass sie nicht mehr zurückkommt.
Und da ist noch der Istanbuler Professer Irfan. Er lebt ein Leben gegen sich selbst, seine Ehe ist missglückt, beruflich sieht er sich gescheitert. Er hat sich von seiner Frau getrennt und reist nun auf einem Schiff ziellos an der türkischen Küste entlang.
Drei Lebenswirklichkeiten prallen aufeinander
Diese drei Protagonisten mit ihren schwierigen Lebenssituationen treffen aufeinander. Wie sie damit umgehen, was aus Meryem, Cemal und Irfan wird, das erzählt Zülfü Livaneli spannend und einfühlsam, mit merklicher Sympathie für Meryem, aber auch mit Cemal. Gerade er soll ja in eine Rolle gedrängt werden, die er nicht will. Er selbst leidet unter den Dingen, die er erleben musste und bräuchte Hilfe. Aber die kann er nicht erwarten.
Es wird immer vergessen, dass auch die jungen Männer, die – weil sie strafunmündig sind bzw. mit geringeren Strafen rechnen können – benutzt werden, um die so genannten Ehrenmorde zu begehen. Sie werden ebenso missbraucht wie die Frauen, denen einen Vergewaltigung widerfährt. Im Roman prallen ganz unterschiedliche Lebensweisen aufeinander, die moderne und die archaische Türkei.
Ich mag sehr, dass Livaneli keine vorschnellen Urteile fällt, jeden seiner Charaktere zu Wort kommen lässt mit seiner Geschichte. Seine Lösung für die Probleme gefällt mir außerordentlich gut. Aber die sollte jede/jeder selbst herausfinden.
Fazit
Überaus lesenswert. Man bekommt ein differenziertes Bild über die Türkei zwischen Archaischem und Modernem. Wichtig vielleicht: Das Buch ist in der Türkei 2002 erschienen und zeitlich also noch vor Erdogans Wahlsieg angesiedelt.
Verlag Klett Cotta, Stuttgart - 2002 - Buch
1035
Livaneli, Zülfü
Serenade für Nadja
Roman
aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Inhalt
Maya, die weibliche Hauptfigur, ist 36 Jahre alt, lebt in Istanbul und arbeitet an der dortigen Universität. Die Geschichte spielt im Jahr 2000-2001. Sie ist geschieden und hat einen Sohn in der Pubertät. Gerade in einer Art Lebenskrise, fürchtet sie zudem, den Kontakt zu ihrem Sohn zu verlieren, der sich immer mehr in seine eigene Welt – Internetwelt – zurückzieht. Zu ihrem geschiedenen Mann hat sie ein distanziertes, nicht unkompliziertes, aber auch nicht unfreundliches Verhältnis. Da bekommt sie den Auftrag, den amerikanischen deutschstämmigen Professor Maximilian Wagner zu betreuen. Er ist in Istanbul, um an einem Kongress dort teilzunehmen.
Maximilian Wagner ist ein schon alter Mann, sensibel, gebildet und sehr freundlich und höflich. Maya gerät sehr schnell in seine Geschichte. Sie erfährt mehr und mehr von ihm und was es auf sich hat mit der Geige, die er immer mit sich führt ebenso wie die Noten für eine Serenade, die einer geheimnisvollen Frau namens Nadja gewidmet ist. Bald verwebt sich Mayas Geschichte immer mehr mit der Maximilians. Durch ihn erfährt sie nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch die der Türkei während des zweiten Weltkriegs, die Rolle, die das Land spielte gerade in Bezug auf die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland. Und sie erfährt die tragische Liebesgeschichte des Professors. Was das alles für sie (und ihn) bedeutet und welche Folgerungen sie daraus zieht, das schreibt Zülfü Livaneli spannend und einfühlsam.
Auch hier zeigt sich wieder Livanelis Talent, Geschichten zu schreiben, die aktuelle Themen der Türkei aufgreifen, spannende Bezüge zur Vergangenheit herzustellen und Lösungsansätze zu finden für das eigene Leben ebenso wie für das eines Landes mit seinen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Serenade für Nadja ist auch ein politisches Buch. Gegen Ende zitiert Maya aus einem Vortrag von Maximilian. Dieser habe „Professor Huntingtons Begriff des 'Kampfes der Kulturen“ und Edward Saids 'Kampf der Ignoranz' durch den Begriff 'Kampf der Vorurteile' ergänzt.“ Dieser Kampf gegen Vorurteile heute so wichtig wie zu jeder Zeit.
Serenade für Nadja aber ist gerade für uns Deutsche so besonders. Es geht einmal um die Vergangenheit, aber auch um das Verhältnis von Türken und Deutschen und wie viel an gemeinsamer Geschichte sie haben. Und es tut gut, mit welch großer Sympathie der nichtjüdische deutschstämmige Maximilian geschildert wird. Irgendwie ist es wie Balsam auf die geschundene Seele von Deutschen, die die Vergangenheit ihres Landes nicht verdrängen, sondern sich ihr stellen wollen. Dass gerade ein türkischer Schriftsteller dies zu tun vermag, berührt mich sehr. Selten hat mich ein Buch so auf Anhieb fasziniert. Was für eine Geschichte.
Btb - 2015 - Buch
1027
Lorber, Richard
Oper – aber wie? Gespräche mit Sängern, Dirigenten, Regisseuren, Komponisten
1. Aufl. 2017
Oper verstehen - geht doch!
Das Buch hat mir sehr gefallen. Die Interviews sind allesamt interessant und lehrreich, dabei aber unterhaltsam. Man hat die Gelegenheit, von Sängern, Regisseuren und Dirigenten zu erfahren, wie sie Musik sehen und erleben, was für sie wichtig ist, wie sie zu modernen Interpretationen und Aufführungen stehen.
Verlag J.B. Metzler - 2016 - Buch
1064
Mann, Heinrich
Die Jugend des Königs Henri Quatre - Die Vollendung des Königs Henri Quatre
Biographisches:
Heinrich Mann (1871-1950), älterer Bruder Thomas Manns, Sohn eines Lübecker Senators, Großkaufmanns und Reeders. Er wuchs auf im Deutschland Preußens, erlebte beide Weltkriege, war ein entschiedener Gegner von Diktaturen sowie des NS-Regimes. Berühmt wurde er mit dem Roman „Professor Unrat“ über die deutsche Untertanenseele bzw. mit dessen Verfilmung unter dem Titel „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich und Emil Jannings. Heinrich Mann fühlte sich von Jugend an zu Frankreich hingezogen. Als er 1933 überstürzt aus Deutschland fliehen musste, emigrierte er über Sanary sur Meer nach Nizza. Hier waren auch andere Flüchtlinge vor dem Nazi-Regimes gestrandet. Nach einer abenteuerlichen Flucht über die Pyrenäen gelangte er mit Hilfe seines Bruders Thomas und seiner Nichte Erika Mann nach Amerika, wo er bis zu seinem Tode lebte.

Von 1935 bis 1938 schrieb er „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ sowie „Die Vollendung des Königs Henri Quatre“. Mit diesem Werk fand er die uneingeschränkte Bewunderung seines Bruders Thomas, der ihm und seinen früheren Werken zum Teil ablehnend gegenüberstand.
Inhalt
Henri Quatre, geb. 1553, war ein französischer König, Sohn des katholischen Herzog von Vendôme, Anton von Bourbon, und der protestantischen Königin von Navarra, Johanna von Albret.
Von Kindheit an wurde er in die Glaubenskämpfe und Kriege bzw. Intrigen am französischen Hof der Valois-Dynastie hineingezogen. Auch zwischen seiner Mutter und dem Vater gab es immer wieder Streit wegen der Religion und welcher Henri angehören solle. Er war katholisch getauft, wurde aber weitestgehend von seiner protestantischen Mutter erzogen und fühlte sich deren Glaubensbekenntnis verpflichtet. Er war mehrfach gezwungen, seinen Glauben zu wechseln. Schon als Kind musste seine Mutter ihn an den Königshof abgeben, wo man ihn zwang, sich dem katholischen Glauben zu unterwerfen. Er wuchs auf mit den Söhnen Katharina de Medicis und mit Henri, Duc (Herzog) de Guise, der später zum Anführer der Katholischen Liga wurde. Seiner Mutter gelang es, ihn nach Navarra zurückzuholen, wo er sofort zum Protestantismus übertrat. Seine Ehe mit Margarete von Valois, Tochter Katharina de Medicis und Heinrich II von Valois, sollte ein Friedensbündnis zwischen Protestanten und Katholiken besiegeln. Die Hochzeit endete in einem Blutbad, der so genannten Bartholomäusnacht (24. August) des Jahres 1572, auch Pariser Bluthochzeit genannt. An die 3000 Protestanten wurden hingemetzelt, die schlimmsten Gräueltaten verübt, der Mob feierte mit einer Grausamkeit, die auch heute noch erschüttert. Das Blut, so Zeitzeugen, floss in Strömen, Paris war voller Leichen. Im übrigen Land waren es an die 10.000 Hugenotten, die ermordet wurden. Henri überlebte, musste sich aber entscheiden: Gefangenschaft in der Bastille, Tod durch den Galgen oder Übertritt zum Katholizismus. Er entschied sich für letzteres. Für 39 Monate war er Gefangener am französischen Hof, während es immer wieder zu Kriegen zwischen den Parteien kam. Endlich, als schon niemand mehr an eine Flucht glaubte, gelang es Henri mittels einer List zu entkommen. Er kehrte nach Navarra zurück, trat zum Protestantismus über, und stellte sich in den Dienst der protestantischen Sache.
Mit ihm und den anderen Kämpfern für ihre Sache gelang es ihm, mehr und mehr Einfluss zu bekommen. Schließlich gingen er und seine Anhänger als Sieger aus dem Bürgerkrieg hervor. Inzwischen war am Königshof Chaos ausgebrochen. Das Haus Valois, gezeichnet durch eine geheimnisvolle Krankheit (die Bluterkrankheit) verlor den Thron mit der Ermordung Henri III durch einen Anhänger der Katholischen Liga. Zuvor hatte Henri III den Duc de Guise ermorden lassen (im Schloss zu Blois). In seinem Testament bestimmte Henri III seinen Cousin Henri von Navarra zum Nachfolger. Der war am Anfang nur an 14. Stelle in der Thronfolge. Durch die Wirren der Bürgerkriege, die Krankheit und das frühe Sterben der Valoiskönige rückte Henri an die erste Stelle. Sein Problem: Er war Protestant. Und ihm wurde klar, dass er niemals König von Frankreich werden könne, wenn er nicht zum Katholizismus überträte. Nach langem Ringen entschloss er sich dazu. Angeblich mit den Worten: Paris ist eine Messe wert.
Als Henri Quatre ging er in die Geschichte ein. Von Anfang an war sein Leben in Gefahr, es wurden eine Reihe von Anschlägen auf ihn vereitelt. Obwohl inmitten von Gewalt und Blutvergießen aufgewachsen, war er laut allen Quellen weder rachsüchtig noch blutrünstig, er brachte Frankreich Frieden und Wohlstand. Man nannte ihn auch Henri le Grand oder in seiner gascognischen Heimat „lo nòstre bon rei Enric (deutsch: unser guter König Heinrich)“. Am 14. Mai 1610 wurde er von Francois Ravaillac ermordet.
Soweit die Historie.
Heinrich Mann hat diesen König bewundert und man kann sagen, geliebt. Er sagt über ihn: „Der menschliche Reichtum – nicht die gewohnte verkümmerte Natur ohne Wissen – kann machtvoll sein. Henri Quatre, oder die Macht der Güte.“
Die Persönlichkeit und das Leben dieses Königs ist für Heinrich Mann (nomen est omen) das Gegenbild zu allen Diktatoren und Machthabern nicht nur seiner Zeit. Man hat Mann dies vorgeworfen, er sei in seiner Schilderung der Geschehnisse zu nah an seiner eigenen Zeit, er idealisiere den König, ja zeichne ihn in gewisser Weise als Heilsbringer.
Das mag in Teilen zutreffen. Andererseits hat er – soweit ihm die Quellen zur Verfügung standen – intensiv recherchiert. Seine Schilderungen lassen sich durch neuere Forschung belegen. Aus dem hohlen Bauch hat er nun wirklich nicht geschrieben oder fabuliert. Sein Stil ist völlig anders als in seinen anderen Werken. Hier schreibt nicht der Ironiker, nicht der Spötter. Er lebt und leidet mit seinem Held. Die Sprache ist klar und unkompliziert, einfach, gerade heraus und nahe an den Menschen. Das hat mit seinem Helden zu tun, dem Gegenentwurf zum verlogenen, intriganten und moralisch verkommenen Königshof der Valois. Was Heinrich Mann auch umtreibt: Obwohl vielfach verraten und bedroht, wurde er nicht zum Tyrannen, nicht zum Mörder. Wie ist es möglich, dass ein Mensch unter so menschenverachtenden Umständen aufwächst und nicht so wird wie sein Umfeld? Wie konnte sich Henri Quatre seine Güte bewahren und sich um Vermittlung zwischen den verfeindeten Parteien bemühen?
Heinrich Mann versucht eine Antwort auf diese Fragen. Sein beiden Romane über Henri Quatre geraten auch zu einer Hommage an diesen König und an ein Land, das er immer liebte und das ihm zumindest bis zum Vichy-Regime Unterschlupf gewährte. Frankreich und seiner Kultur, seinen Künstlern fühlte Heinrich Mann sich nahe und verpflichtet.
Ein Werk, nicht nur für Frankreich-Liebhaber, sondern für alle Leser und Leserinnen, die sich für Geschichte und Geschichte interessieren, die verstehen, wie sehr die Vergangenheit die Gegenwart berührt und betrifft. Und gerade im ersten Teil ist das Buch außerordentlich spannend und mitreißend geschrieben. Man fiebert mit Henri, geht mit ihm durch alle Höhen und Tiefen, und wünscht ihm einfach nur, dass er überlebt und lebt und dass sein Leben glückt.

Wer sich für diese Zeit der französischen Geschichte interessiert, hier noch einige Tipps:

Robert Merle: Fortune de France (viele Einzelbände mit eigenen Titeln, beginnend mit: „Fortune de France“, grandios erzählt anhand der Geschichte einer französischen Familie von Anfang des 16. Jahrhunderts bis zu Ludwig XIV, abenteuerlich und Detail versessen – und Heinrich Manns Version bestätigend), Aufbau-Verlag

Saint-René Taillandier: Heinrich IV – Der Hugenotte auf Frankreichs Thron
Verlag Diedrichs 1996

Ein großangelegte Biographie des Königs, lebendig und eindrucksvoll geschrieben. Und auch Taillandiers Buch zeigt, wie gut Heinrich Mann recherchiert hat.
rororo - 2001 - Buch
1111
Mendelsohn, Daniel
Daniel Mendelsohn – Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich
auf Englisch erschienen bei Alfred A. Knopf, New York, 2017
Matthias Fienbork
Daniel Mendelsohn – Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich
Daniel Mendelsohn (geb. 16. April 1960 auf Long Island, New York) ist ein US-amerikanischer Schriftsteller, Übersetzer, Journalist und Kritiker für verschiedene US-amerikanische Magazine. Er ist Altphilologe und studierte u.a. an der Princeton-University. 1994 promovierte er in Classical Studies. Er übersetzte Gedichte von Konstantin Kavafis ins Englische. 1999 veröffentlichte er sein erstes Buch „The Elusive Embrace“. Weitere Werke erschienen auf Englisch.
Auf Deutsch ist bislang erhältlich sein preisgekröntes Familiendrama „Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen“ (2006 auf Englisch, 2010 auf Deutsch), das den Holocaust und dessen Auswirkungen auf seine Familie zum Thema hat. 2019 erschien „Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich“ auf Deutsch (Englisch 2017).
Die „Odyssee“ - eine alte Geschichte neu gesehen
Als der 81jährige pensionierte Mathematiker Jay Mendelsohn seinem Sohn Daniel eröffnet, er wolle an dessen nächstem Seminar zur „Odyssee“ von Homer teilnehmen, ist der alles andere als begeistert. Zum einen ist das Verhältnis zum Vater schon immer angespannt. Nicht wegen der Homosexualität Daniels, sondern wegen der hohen Ansprüche, die der Vater an seine Söhne stellt. Daniel stand und steht immer unter Druck, die Anerkennung des Vaters erarbeiten zu müssen. Ziele und wie man sie erreicht, das war wichtig, für Gefühle die Mutter zuständig. So suchte Daniel Zuwendung und Anerkennung immer außerhalb der Familie.
Zum anderen fürchtet er sich vor den Reaktionen des Vaters auf die „Odyssee“, zumal schon vorher klar ist, dass der das Epos nicht mag, es aber lesen will, weil er das immer wollte. Ihn stört, dass Odysseus oft weint: Wieso weint er? Und was ist an dem so heldenhaft? Daniel sieht sich von ihm schon lächerlich gemacht vor seinen Studenten. Interessanterweise stört der Vater aber gar nicht. Die Studenten mögen ihn, denn er stellt Fragen, auf die sie noch gar nicht gekommen waren oder die sie sich nicht getrauen zu stellen. Und Daniel muss sich selbst fragen, ob nicht einiges an diesen kritischen Anmerkungen dran ist.
Gemeinsam machen sie sich also an das ca. 3000 Jahre alte Epos. Und mit ihnen können das nun auch die LeserInnen tun und erkennen: Das Alte ist ja gar nicht so alt. Wenn man unvoreingenommen herangeht, dann stellt man fest: Die alten Konflikte und Sorgen sind von unseren nicht weit entfernt. Und es ist eine spannende Geschichte.
Vater und Sohn – ein weites Feld
Diese Spannung hat auch mit der Herangehensweise zu tun: Daniel Mendelsohn liest das Epos als eine Vater-Sohn-Geschichte. Odysseus und Telemachos, sein Sohn, sind die Protagonisten. Der Vater ist seit zwanzig Jahren unterwegs, irrt auf den Meeren umher, versucht, nach Hause zu kommen, scheitert mit diesen Versuchen. Der Sohn, der den Vater gar nicht kennengelernt hat, weiß nicht einmal, ob der überhaupt noch lebt und was er denn in all den Jahren getan hat. Er weiß gar nichts über ihn und von Liebe zu ihm kann keine Rede sein.
Eigenartigerweise beginnt die „Odyssee“ nicht mit dem Titelhelden, sondern mit dem Sohn. Telemachos wird auf eine Reise geschickt, die ihn zu ehemaligen Weggefährten des Vaters führt. Von ihnen erhofft er sich Auskünfte über dessen Verbleib. Warum beginnt das Epos mit dem Sohn und nicht dem Vater? Was hat es damit auf sich? Bewegen sich Vater und Sohn auf verschlungenen Pfaden aufeinander zu und was steht dem im Wege? Diese und andere, nicht minder spannende Fragen (z.B. Rolle und Einfluss von Kriegen auf die Menschen und die jeweiligen Gesellschaften, auf Sieger und Verlierer), werden angesprochen. Ihren schwierigen Weg zueinander erzählt der Autor anhand der eigenen Vater-Sohn-Geschichte. Dabei kommen sich die Beiden so nah wie nie zuvor, vor allem auf der gemeinsamen Reise zu den Orten des Epos, also auf den Spuren von Odysseus. Der Sohn entdeckt den Vater, der Vater den Sohn. Epos und eigene Lebenswirklichkeit begegnen sich.
Lebendig, kundig, klug und spannend erzählt
Das Buch hat mir großen Spaß gemacht. So lasse ich mir alte Epen gerne gefallen. Zumal, wenn ich erkennen kann, dass sie immer noch funktionieren, dass es Bezüge zu unserem Leben gibt. Die Vater-Sohn-Thematik ist heute genauso aktuell wie zu allen Zeiten. Und wieder bewahrheitet sich Folgendes: Es kommt immer darauf an, wie etwas erzählt wird, ob wir mit Vorurteilen an etwas und jemand herangehen, oder ob wir offen sind für andere Sichtweisen.
Daniel Mendelsohn muss in seinem Seminar lernen, seine Vorstellungen vom Epos und dem Umgang damit den Gegebenheiten vor Ort anzupassen und seine StudentInnen viel stärker einzubeziehen. Die frische, unorthodoxe Fragestellung seines Vaters führt zu einer offeneren Diskussion, gerade weil der etwas respektlose Umgang seines Vaters und der Studenten mit dem Epos das Ganze reizvoller macht. Vater und Sohn lernen sich neu und nun erst richtig kennen. Ein lebenskluges, feines Buch, oft witzig oder berührend. Und richtig gut erzählt. Davon gerne mehr.
Siedler-Verlag, München, gebundene Ausgabe - 2019 - Buch
1028
Meyerhoff, Joachim
Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war
deutscher Schaupieler, Regisseur, Schriftsteller, geb. 1967 - Taschenbuch
Joachim Meyerhoff ist Schriftsteller und Schauspieler.
Dieses Buch ist das zweite von Vieren.
Sein junger Held wächst mit seinen zwei Brüdern, einem Hund, Vater und Mutter auf dem Gelände einer einer Kinder- und Jugendpsychiatrie auf. Sein Vater ist der Direktor dort. In der Theorie glänzend, in der Praxis auf seine Frau angewiesen, die den Alltag regelt. Alles ist anders als bei andern, aber so anders, dass es wieder sehr interessant und unterhaltsam wirkt, bei allem was ansonsten völlig aus dem Rahmen fällt. Allerdings stört gerade das den Helden nicht. Er lernt, zwischen den Welten zu leben, mit ihnen sozusagen zu jonglieren. Abstürze - eigene und familiäre sowie von Menschen aus dem Umfeld - tun zwar weh, gehören aber dazu. Wer frühzeitig lernt abzustürzen, kann dann wohl später besser fliegen.
Die anderen Werke
Die anderen drei sind übrigens auch lesenswert: Alle Toten fliegen hoch (über das Jahr in Amerika/USA, 2013, ebenfalls Kiepenheuer & Witsch, Taschenbuch); Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke, ebenfalls Kiepenheuer & Witsch 2017, Taschenbuch (über die Zeit bei den Großeltern und die Schauspielschule – seine Lehrjahre sozusagen); Die Zweisamkeit der Einzelgänger – über das Erwachsenwerden und die Liebe, gebundene Ausgabe, ebenfalls Kiepenheuer & Witsch 2017
Der Film zum Buch
Das sehr erfolgreiche Buch des Autors und Schauspielers Joachim Meyerhoff wurde 2022 verfilmt und ist nun auf DVD erschienen. Eine sehr gelungene Umsetzung des Romans mit hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspielern bis in kleine Rollen liebevoll und einfühlsam besetzt und umgesetzt. Wer das Buch gelesen hat, wird vieles wiedererkennen und manche Szenen im Kontext besser einordnen können. Aber auch ohne das Buch gelesen zu haben, lohnt sich der Film.
Regie: Sonja Heiss, Darsteller: Devid Striesow, Laura Tonke, Arsseni Bultmann u.a.
Fazit
Der Film zum Buch "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war" wird der Vorlage gerecht, insbesondere dem hintergründigen und stellenweise absurden Humor der Vorlage.
Sehr lesenswert. Allen Büchern ist eigen ein durchaus spaßiges, ja burleskes Erzählen, das immer wieder durchbrochen wird von ernsten Einschüben, melancholischen Gedanken und traurigen Erlebnissen. Ernst, heiter, verrückt – wie das Leben.
Kiepenheuer und Witsch - 2015 - Buch
1086
Muhlstein, Anka
Die Gefahren der Ehe - Elisabeth von England und Maria Stuart
gebundene Ausgabe
Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann
Die Gefahren der Ehe - Elisabeth von England und Maria Stuart
Anka Muhlstein ist eine französische Historikerin
geboren 1935 in Paris, lebt seit 1974 in den USA. Für ihre Biographie über Astolphe de Custine erhielt sie 1996 den Prix Goncourt.
Herrschen oder Lieben?
Im Vorwort ihres überaus lesenswerten Buches weist Anka Muhlstein auf ein Problem hin, mit dem sich vor allem Frauen bzw. Königinnen in der Zeit der absoluten Monarchie konfrontiert sahen. Einerseits gehört es zur Monarchie, dass die Herrscher heiraten müssen. Denn ohne Ehe gibt es keine legitimen Nachkommen und also endet die jeweilige Dynastie. Eine Ehe bedeutete für einen Herrscher keinerlei Machtverlust, einer Herrscherin drohte aber genau dies: „Für eine gekrönte Herrscherin bedeutet die Heirat zunächst einmal, daß sie ihre Unabhängigkeit beeinträchtigt. Für alle, die heiraten, gilt, daß sie sich einem Herrn und Gebieter unterwerfen. Der Begriff des Prinzgemahls ist eine moderne Vorstellung. Der Mann der Königin ist im 16. Jahrhundert „der König“. Zwangsläufig wird er zum herrschenden Teil des Paares.“ Weitere Minuspunkte für eine Königin, die selbst herrschen will, sind die Risiken, die ein ausländischer, aber auch ein inländischer Ehemann mit sich bringen in Bezug auf Machtansprüche fremder Mächte bzw. Streitigkeiten unter den Adeligen des eigenen Landes. Und die Gefahren einer möglicherweise tödlich endenden Schwangerschaft waren überaus real.
Was also tut eine Frau, die wirklich Königin sein will, in dieser Zeit? Welches sind ihre Möglichkeiten? An den so gegensätzlichen Frauen wie Elisabeth I. von England und Maria Stuart, Königin von Schottland, erzählt Anka Muhlstein die unterschiedlichen Biographien und Strategien beider Königinnen. Elisabeth war zweifellos von beiden die intelligentere und mit außerordentlich politischem Verstand ausgezeichnet. Sie bewahrte sich die Macht und lieferte sich keinem Mann aus. Ganz anders Maria Stuart. Ihre skandalträchtigen Ehen und Beziehungen sind legendär. Elisabeth wurde zu ihren Lebzeiten allseits verehrt und ihre Fähigkeiten und Verdienste um England sogar zunehmend auch von ihren Feinden anerkannt. Maria Stuart genoss aufgrund ihres skandalösen Lebenswandels keinerlei Ansehen zu Lebzeiten.
Doch mit der Zeit veränderten sich die Sichtweisen: Maria wurde romantisiert, sie war eine richtige, weil leidenschaftliche Frau. Sie entsprach viel mehr einem Frauenbild, das die Frau als schwach und von ihren Leidenschaften beherrscht sieht. Elisabeth galt nach dieser Sichtweise viel weniger als Frau denn als Mann. Ob Friedrich Schiller, Walter Scott oder Stefan Zweig – sie alle trugen zur Aufwertung Maria Stuarts und zur Abwertung Elisabeths bei,teilweise unter Außerachtlassung der historischen Fakten.
Spannend und lehrreich - nicht nur, aber vor allem für Frauen
Anka Muhlstein bringt dies alles ins Bewusstsein der zeitgenössischen Leserinnen und Leser. Sie punktet mit Fakten und klaren Analysen. Ihr Buch ist sehr verständlich und spannend geschrieben. Also: sehr empfehlenswert.
Insel - 2005 - Buch
1066
Muhlstein, Anka
Königinnen auf Zeit - Katharina von Medici, Maria von Medici, Anna von Österreich
Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann
Zur Person
Anka Muhlstein ist französische Historikerin, lebt in den USA
Ein Buch mit einer außergewöhnlichen Thematik: Drei Mütter von Thronfolgern, die für ihre Söhne die Regentschaft übernahmen. Und wie sie damit umgingen, dass sie mit deren Volljährigkeit und Krönung die Macht abgeben mussten – oder dies de facto nicht taten. Die Besonderheit dabei ist auch, dass drei Regentinnen in Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert für ihre Söhne regierten und in Widerspruch gerieten mit ihrer Rolle als Mutter, den Aufgaben der Kindererziehung und den politischen Interessen, der Staatsraison und eigenem Machtkalkül. Wie schwer sie sich damit taten, zeigt das Beispiel Maria de Medicis (verheiratet mit Henri IV). Ihr Sohn, Ludwig XIII, musste, um selbst regieren zu können, seine Mutter mehrfach regelrecht aus dem Land jagen. Sie war eine machthungrige, unverbesserlich intrigante Person. Sie lebte später in Köln und starb auch dort. Katharina de Medici regierte für mehrere ihrer Söhne und überlebte sie. Sie gilt als der Inbegriff der Übermutter und machtbewussten Regentin. Nur die in Romanen und Filmen wie „Die drei Musketiere“ verunglimpfte Anna von Österreich war dem späteren Ludwig XIV eine liebevolle Mutter und bereitete ihn auf seine Lebensaufgabe vor. Sie war die einzige, die ihren Platz ohne Schwierigkeiten räumte und ihren Sohn in dem Bewusstsein seiner Königswürde aufzog.
Empfehlenswert, kenntnisreich, spannend und unterhaltsam geschrieben.
Insel-Verlag - 2003 - Buch
1045
Murgia, Michela
Accabadora
Roman - gebundene Ausgabe
Übersetzerin: Julika Brandestini
Zur Person
Michela Murgia, geboren 1972 in Cabras/Sardinien. Sie studierte Theologie und unterrichtete Religion. Sie wurde bekannt mit ihrem Buch über ihre Erfahrungen in einem Callcenter Il mondo deve sapere (2006) und den prekären Arbeitsbedingungen dort, auf Deutsch: Camilla im Callcenterland (2011). Später publizierte sie einen Erzählband über Orte der Insel Sardinien. Ihr erster Roman Accabadora erschien 2009 in Italien und erhielt verschiedene Auszeichnungen.
„Fillus de anima, Kinder des Herzens.
So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen. In dieser zweiten Geburt wurde Maria Listru zum späten Segen für Bonaria Urrai.“
So beginnt das Buch. Es erzählt die Geschichte von Maria Listru, einem ungewünschten und erwünschten Mädchen, das auf Sardinien in den 1950er Jahren aufwächst. Bonaria Urrai nimmt sie an Kindes Statt zu sich. Sie ist eine schon ältere alleinstehende Frau. Marias bitterarme Familie will die Nachzüglerin nicht, Bonaria Urrai nimmt sich ihrer an. Und bei ihr erlebt Maria all die Liebe und Fürsorge, die sie in ihrer eigenen Familie bislang nicht erfahren hat und bei der sie keine Chance auf ein gutes Leben hätte. Selbst ein eigenes Zimmer hat sie. Auch eine sehr gute Ausbildung ermöglicht ihr Bonaria Urrai. Maria lebt über viele Jahre sehr gerne bei ihr. Und für Bonnaria ist eine glückliche Zeit. Doch dann muss Maria die schmerzliche Erfahrung machen, dass auch die Personen, die man liebt, Dinge tun, die man nicht versteht und nicht gutheißen kann.
Denn Bonnaria hat ein Geheimnis, sie ist mitunter nachts unterwegs, manchmal wird sie unvermittelt gerufen in andere Familien. Was sie da macht, weiß Maria nicht. Erst spät erfährt sie, um was es sich dabei handelt. Und mit diesem Wissen verändert sich die Beziehung zwischen den beiden grundlegend.
Mir hat das Buch großen Eindruck gemacht. Beide, Maria und Bonaria sind starke Persönlichkeiten. Maria verdankt ihr alles, aber die Frau, die für sie Mutterstelle übernommen hat, bleibt ihr in einem großen Bereich ihres Lebens fremd. Das Buch behandelt Themen wie Leben in einer archaisch anmutenden Welt, Adoption und den Umgang mit Sterben und Tod sowie das Thema Sterbehilfe. Und die Frage: Was würdest du tun, wenn dieses Thema auf dich zukommt? Die Sprache ist kraftvoll und sensibel in einem, nie sentimental, eher ein wenig unterkühlt, dann aber von großer Intensität. Ein Buch, das einen in seinen Bann zieht.
Klaus Wagenbach - 2010 - Buch
1094
Ott,, Karl-Heinz
Karl-Heinz Ott – Hölderlins Geister
Karl-Heinz Ott - Hölderlins Geister
Karl-Heinz Ott (* 14. September 1957 in Ehingen (Donau) bei Ulm) ist ein deutscher Schriftsteller, Essayist und literarischer Übersetzer. Er schreibt sowohl Essays als auch Romane und Werke für die Bühne und erhielt diverse Preise für sein Schaffen, u.a. den Johann-Peter-Hebel-Preis und den Wolfgang-Köppen-Preis.
Da schreibt jemand mit Herzblut
Nachdem ich Rüdiger Safranskis Hölderlin-Biographie gelesen hatte, entdeckte ich den Essay von Karl-Heinz Ott. Der kam mir gerade recht. Im Grunde lohnt es sich, zuerst Safranskis Buch zu lesen und im Anschluss daran den Essay von Ott.
Ott liefert nicht nur eine Biographie des Dichters, sondern setzt sich sehr kritisch mit ihm auseinander und mehr noch mit dessen Nachfahren im 20. Jahrhundert und deren Vereinnahmung des Toten für ihre eigenen Ziele, Zwecke und Ideologien. Das ist sehr fachkundig vorgetragen, teilweise mit beißender Ironie, die dem Buch aber eine ganz eigene Würze gibt.
Kampf mit Geistern und Geisterverehrern
Man spürt den Zorn des Autors, der die wirklichkeitsfremden, verstiegenen Worthülsen aufdeckt, teilweise von Hölderlins selbst stammend, dann wieder von seinen Verklärern, die alle ihre eigenen Süppchen kochen und wiederum anderen, noch schlimmeren, in die Hände spielen. Seien sie von rechter wie von linker Seite, seien sie Dichter und Denker (Philosophen) - Hölderlins Geister verwirren die Geister der Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Als wäre dieses nicht schon verwirrt genug gewesen. Wie viel Banales kommt hochtragend daher, aufgewertet durch eine überhöhte Dichtersprache, die dann begeistert, weil zumeist unverständlich, aufgegriffen wird. Wie überhaupt das Raunen und Rauschen im Dichterwald einhergeht mit der unverständlichen und darum umso vieldeutigeren Tiefe. Wie leicht diese „Tiefe“ instrumentalisiert werden kann bzw. worden ist, das zeigt Ott glänzend und kenntnisreich.
Kritische Auseinandersetzung mit Hölderlins Persönlichkeit
Ott beschreibt kritisch die Persönlichkeit Hölderlins, seine hochfahrenden Pläne und sein Scheitern auf allen Gebieten. Er lässt ihm weder seine Selbstüberschätzung durchgehen noch sein Selbstmitleid. Er fasst ihn recht hart an. Das ist aber für mich vor allem verständlich wegen der unverhältnismäßigen Wertschätzung, die dem Dichter im 20. Jahrhundert zuteil wurde. Zudem sagt die durchaus einiges über diese Verehrer des Dichters aus.
Die späten Hölderlin-Gedichte
Ein besonderes Verdienst dieses Buches ist, dass sie Hölderlins Spätwerk nicht in Bausch und Bogen ablehnt, sondern zeigt, dass vielleicht gerade dort einiges Schöne und Gute zu finden ist. Hier kann ein Hölderlin begegnen, der nicht in eisigen ideellen Höhen verloren gegangen ist, sondern der auf seinen Spaziergängen endlich findet, was schon Goethe ihm empfohlen hatte: Sich Gegenständen zu widmen, die näher liegen und die zu besingen. Diese Texte würde ich mir gerne einmal näher anschauen.
Spannend und lehrreich
Ott erzählt mit Witz und Verve. Spannend, vergnüglich, überraschend und richtig gut geschrieben.
Carl Hanser - 2019 - Buch
1046
Padura, Leonardo
Das Havanna-Quartett: Ein perfektes Leben; Handel der Gefühle; Labyrinth der Masken; Das Meer der Illusionen
4 Romane, auf Spanisch erschienen zuerst 1991, 1994, 1997, 1998 - alle 4 Romane in einem Band zusammengefasst 2008
Übersetzer: Hans-Joachim Hartstein aus dem kubanischen Spanisch
Zur Person
Leonardo Padura – geboren 1955 in Havanna, Studium Lateinamerikanistik, Journalist, Buchveröffentlichungen wie Romane, Erzählungen, literaturwissenschaftliche Studien.
Inhalt
Mario Conde, 35 Jahre alt, ist Polizist im Rang eines Teniente (Leutnant) in Havanna, bekannt für sein eigenwilliges Vorgehen und seine Widerborstigkeit. Trotz oder gerade wegen dieser Eigenschaften ist er geachtet, seine Aufklärungsrate bei Verbrechen hoch. Die vier Romane spielen im Jahr 1989. Die Vorboten von Glasnost sind zu spüren, die kubanische (machistisch geprägte) Gesellschaft kann sich den Sogwirkungen der Veränderungen in der Beziehung zu Russland nicht entziehen. Gleichwohl soll es weitergehen wie bisher.
Lebenskrisen und Lebenslügen
Doch das will immer weniger gelingen. Mario Conde selbst befindet mitten in einer Lebenskrise. Er ist desillusioniert, sein Leben erscheint ihm zunehmend sinnlos und kaputt. Alles, was man ihm in seiner Kindheit und Jugend beigebracht hat, war mehr oder weniger verlogen. Seine Jugendträume haben sich als Chimären erwiesen, sein Traum vom Schriftstellerberuf ist in weite Ferne gerückt. Er möchte den ungeliebten Polizeiberuf aufgeben, aber von etwas muss er leben. Was ihn noch hält ist die Beziehung zu seinem Vorgesetzten Mayor Rangel, der eine Art Vaterersatz ist. Und sein Kollege Sargento Manolo Palacios, mit dem er gerne arbeitet.
Immer wieder muss er bei der Aufklärung von Verbrechen, insbesondere von Mord, erfahren, dass eine gewisse Oberschicht, vor allem der Parteikader, sehr gut lebt, korrupt ist auf Kosten derer, denen man Durchhalteparolen gepredigt hat und die nun am Rande der Gesellschaft ihr Dasein fristen. Die diversen Säuberungsaktionen dienen nur immer wieder noch korrupteren Leuten. Nach außen hart, zynisch, ironisch, Kettenraucher, ist Conde nach innen ein Romantiker, Idealist und ewig Suchender nach der untergründigen und berührenden Geschichte, die er so gerne und immer noch schreiben möchte. Seinen Zorn und den Frust über die Gesellschaft, seinen Beruf und sich selbst in seiner inneren Zerrissenheit versucht Conde mit exzessivem Alkoholkonsum herunterzuspülen. Permanent unglücklich verliebt verstrickt er sich immer wieder in sexuelle Abenteuer, die ebenso exzessiv und obsessiv erscheinen. Was ihn noch hält, sind seine Jugendfreunde wie der dünne Carlos, der nicht mehr dünn ist, und dessen Mutter Josefina, die auch aus Nichts wundervolle Speisen kreieren kann.
Gesellschaftskritik
Die vier Romane kreisen um diese Themen. Leonardo Padura nutzt die Möglichkeiten des Krimi-Genres, um auf gesellschaftliche Zustände hinzuweisen: Auf Opportunismus, Lebenslügen, Karriere auf Kosten anderer (Ein perfektes Leben, Handel der Gefühle). Oder auf die Lage der Homosexuellen und Transvestiten in der homophobischen kubanischen Gesellschaft sowie die prekäre Situation der Schriftsteller und Künstler (Labyrinth der Masken). Im letzten Fall (Das Meer der Illusionen) ist Mario Conde auf dem Absprung. Er will den Polizeidienst quittieren. Ein letztes Mal macht er sich auf die Suche nach dem Mörder, der sein Opfer grässlich zugerichtet hat. Was ist das Motiv? Wer hat sich an der Habe vieler Emigranten bereichert, die sich in die USA bzw. Miami abgesetzt hatten und alles zurücklassen mussten? Und wie wird die Stadt dem herannahenden schweren Zyklon Felix begegnen?
Wie weit kann ein Schriftsteller in einem diktatorischen Regime gehen?
Padura sagte in einem Interview einmal, er wisse genau, wie weit er mit seiner Kritik gehen dürfe, ohne im Gefängnis zu landen. Insofern kritisiert er eher indirekt das Regime und die geltende Ideologie. Denn zunächst sind es einzelne, die korrupt sind. Das war wohl noch zu ertragen. Aber natürlich bleibt die Frage, wieweit das System die Ursache für das alles ist. Die muss dann jeder für sich beantworten. Und ebenso, ob man für seine Kritik bereit ist, ins Gefängnis zu gehen bzw. gesellschaftliche Ächtung auf sich zu nehmen.
Fazit: Lesenswert, allerdings etwas schwierig wegen der durchgehend depressiven Stimmung Mario Condes. Die Sprache ist sehr direkt, sinnlich, aggressiv, teilweise Straßen- und Machosprache. Sich vornehm verklausuliert auszudrücken bleibt in der Regel der korrupten Oberschicht vorbehalten. Doch wechselt die Sprachebene auch stark bei den schriftstellerischen Versuchen Mario Condes, die er immer wieder unternimmt. Was die Romane vor allem interessant macht außer der Gesellschaftskritik, sind die Geschichten, die Zeugen, Verdächtige, zufällige Begegnungen oder Weggefährten Condes zu erzählen haben. Von ihnen erfährt man im Grunde mehr über Kuba und das Leben dort als über die Krimihandlungen selbst. Und natürlich aus Mario Condes Tag- und Alpträumen und Beobachtungen, den vielen liebevoll-wehmütigen Schilderungen Havannas, den schönen alten Häusern und Stadtvierteln mit ihrer großen, nun verfallenen Vergangenheit, den Gerüchen und Geräuschen der Stadt, der Hitze und Kälte und Josefinas köstlichen Kochkünsten. Mit dem „Havanna-Quartett“ wurde Padura auch in Europa bzw. Deutschland bekannt und mit zahlreichen Preisen geehrt.
Unionsverlag - 1997, 1998, 2000, 2001 - Buch
1048
Padura, Leonardo
Der Mann, der Hunde liebte
Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein - Originalausgabe 2009
Inhalt
Iván lebt in Kuba. Er hat seine Frau durch Krankheit verloren, wartet auf seinen eigenen Tod. Dies gibt ihm den Mut, eine Geschichte zu erzählen, die er seit Jahren mit sich herumträgt und die er bislang niemandem erzählt hat, außer zuletzt seiner Frau. Er hatte immer Angst, was geschehen könnte, wenn sie an die Öffentlichkeit käme. Er hat sie von Ramón Mercader erfahren. Es ist dessen Geschichte, die Geschichte des Mörders Trotzkis, der bis zu seinem Tod unbehelligt in Kuba lebte. Iván begegnete ihm an einem Strand in Kuba, wo ihm dessen zwei russische Windhunde, Borsois, auffallen. Das ist die eine Ebene des Romans.
Leo Trotzki und sein Mörder, Ramón Mercader
Die andere ist eine Art Biographie Trotzkis, der von Stalin 1929 in die Türkei ausgewiesen wurde. Kemal Atatürk gewährte ihm politisches Asyl. Padura erzählt in einem atemberaubenden Tempo von den Geschehnissen der Weltgeschichte und den unterschiedlichen Orten, an denen sie stattfand.
Da ist einmal Trotzki mit seinen verschiedenen Verbannungen und Exilen, von Alma Ata (1928) angefangen über die Türkei bis endlich in Mexiko, wo ihn 1940 sein von Stalin beauftragter Mörder erreicht. Und da ist die Geschichte von Ramón Mercader, einem Spanier: seinem Kampf im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco und dessen Gefolgsleute, wie er mit dem sowjetischen Geheimdienst in Kontakt kommt über seine Mutter Caridad, wie man ihn auserwählt für einen besonderen Auftrag, wie er nach Moskau kommt (zur Zeit der Schauprozesse), um an einem geheimen Ort für seine Aufgabe abgerichtet zu werden.
Roman über Missbrauch von Idealen und Verführbarkeit von Menschen
Es ist ein Roman über die Verführbarkeit von jungen, idealistischen Menschen, ihre Zurichtung zu unmenschlichem Verhalten mit der Überzeugung der Rechtgläubigkeit. Es ist eine Abrechnung mit dem Stalinismus, Kommunismus, aber auch mit anderen Ismen, die nur die Pervertierung alles Menschlichen zum Ziel haben mit der Vision einer idealen Gesellschaft, einer Zukunft, für die jeder Verzicht sich lohnt. Und die den Verrat an allem beinhaltet, was dieser Vision im Wege steht, für jeden Verrat und jede Manipulation eine Entschuldigung bzw. Rechtfertigung findet. Auch für den Verrat von Freundschaft, Liebe und Menschlichkeit unter dem Deckmantel eines revolutionären Kampfes gegen bürgerliche Vorstellungen und Verhaltensweisen. Die Revolution frisst nicht nur ihre Kinder, sie ist der Moloch, der sich alles unterwirft und benutzt für ein Ziel, von dem zum Schluss niemand mehr weiß, was es denn ist, wofür man gekämpft hat bzw. kämpft. Und die sich immer wieder speist aus der Paranoia der Herrschenden, ihrem unbedingten Machtwillen und dem ihrer Parteigänger und Gefolgsleute, dem Widerstand gegen Andersdenkende sowie dem Gefühl der geistigen Unterlegenheit gegenüber denen, die man ohne Gewissensbisse zerstört, ja, die man gerade deshalb verfolgt und zerstört.
Spannender Roman und Geschichtslektion
Das Buch ist spannender Roman und Geschichtslektion in einem, grandios und mit Herzblut erzählt. Padura weiß, wovon er schreibt. Er lebte und lebt in Kuba. Da hat man Anschauungsunterricht in Hülle und Fülle. Als er erfuhr, dass der Mörder Trotzkis bis zu seinem Tod in Kuba gelebt hatte, ging er dessen Spuren nach. Das Ergebnis ist „Der Mann, der Hunde liebte“.
Leonardo Paduras Buch ist heute aktueller denn je und widerspricht allen nostalgischen Verklärungen, die es - ob in Russland bezogen auf Stalin oder woanders auf unserem Planeten - gestern gab und heute wieder gibt.
Übrigens: Ramón Mercader (1913-1978), der nach seiner Tat gefasst worden war, verbüßte eine Strafe von 20 Jahren in mexikanischen Gefängnissen, wurde entlassen und bekam von tschechoslowakischen Behörden einen Pass, lebte zunächst in Kuba, danach in Prag und Moskau, wo er auch arbeitete und sich vor allem mit – welch Ironie - Trotzki beschäftigte. Er starb an Knochenkrebs in Havanna, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte.
Unionsverlag - 2011 - Buch
1047
Padura, Leonardo
Der Nebel von gestern
2005 Barcelona - gebundene Ausgabe
Übersetzung: Hans-Joachim Hartstein - Aus dem kubanischen Spanisch
Inhalt
Mario Conde, seit 13 Jahren aus dem Polizeidienst geschieden, schlägt sich als Buchkäufer und -Verkäufer in Kuba durch. Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich nicht nur nicht verbessert – der immer wieder versprochene Wirtschaftsaufschwung ist ausgeblieben. Den Menschen in Kuba geht es noch schlechter. Auch El Conde, wie ihn seine treuen Freunde nennen, ist davon nicht verschont worden. Er kann sich noch immer nicht mit dem menschlichen Makel abfinden und lehnt es ab, andere zu betrügen, auch wenn er sich selbst dabei schadet. Er lebt von seinem Verdienst als Antiquar, erzielt manchmal einen guten Preis, manchmal aber auch weniger Geld. Vorbei die Zeiten, in denen Josefina, die Mutter des Dünnen Carlos und Ersatzmutter für Mario, die wohlschmeckendsten Gerichte auf den Tisch zaubern konnte.
In seinem Kompagnon Yoyi, genannt El Palomo (der Täuberich) findet er einen guten Geschäftspartner, der ihn nicht betrügt. Ohne ihn wäre der Idealist wahrscheinlich verloren. Mit Yoyi klappert er ehemals glänzende, nun verfallende Häuser ab auf der Suche nach interessanten und wertvollen Büchern. Ihre zumeist alten, verarmten Besitzer sind bereit, sie verkaufen, um sich etwas zu essen besorgen zu können. In der Regel haben sie schon alles andere, wie Möbel, Tafelsilber oder Geschirr, veräußert.
Eines Tages entdeckt er in einem dieser Häuser eine unermesslich wertvolle Bibliothek. Die beiden Bewohner, die Geschwister Amalia und Dionisio, sind bereit zu einem Geschäft, ansonsten würden sie verhungern. Conde und Yoyi beginnen, Bücher auszusortieren. In einem Kochbuch, das Conde mit nach Hause genommen hat, entdeckt er einen Zeitungsartikel über eine außergewöhnliche Bolero-Sängerin namens Violeta del Mar. Der Artikel lässt ihn nicht mehr los. Er möchte mehr über diese geheimnisvolle und verführerische Frau erfahren, die Ende der 1950er Jahre in Havanna gelebt hat und der Männer wie Frauen verfallen waren. Er begibt sich auf die Suche nach ihr und findet eine Schallplatte mit einer Aufnahme, die sie eingespielt hat. Der Titel: „Geh fort von mir“ fasziniert ihn und lässt ihn nicht mehr los. Der Spürhund in ihm erwacht und statt der Empfehlung zu folgen, tut er das Gegenteil und lässt sich damit auf ein großes Abenteuer ein, dass ihm einiges an Unannehmlichkeiten und unerwarteten Schwierigkeiten bringt.
Fazit:
Schön, Mario Conde, dem nach außen harten und zynischen Polizisten, nach innen sensiblen Romantiker aus dem „Havanna-Quartett“ wieder zu begegnen. Mit ihm, dem Erinnerungsfetischisten, wie ihn der Dünne Carlos, sein bester Freund, nennt, und seiner Passion für die Vergangenheit, für das Kuba der vorrevolutionären Zeit, tauchen die Leser in diese Welt ein, in das Havanna, von dem es im Buch heißt: „Havanna war die aufregendste Stadt der ganzen Welt! Die Nacht begann um sechs Uhr abends und hörte nie auf. Einfach so, … hast du zwischen Marlon Brando und Cab Calloway gesessen, gleich neben Errol Flynn und Josephine Baker. Mit all den verrückten Leuten, den besten Musikern, die Kuba je hervorgebracht hat. Kannst du dir das vorstellen?“
Von dieser Zeit mit ihren Licht- und vor allem Schattenseiten erzählt Leonardo Padura mit sicherem Erzählinstinkt, ohne Schnörkel, aber mit viel Liebe und Verständnis für seinen Helden und seine treuen Freunde. Und natürlich für sein Havanna und sein Kuba, so alt, krank, verlaust, verfallen und doch auch wieder schön es sein mag. Er singt zudem ohne Sentimentalität ein Loblied auf die Freundschaft und die Liebe, ohne die das Leben nicht lebenswert wäre.
Unionsverlag - 2008 - Buch
1088
Peters, Ellis
Bruder Cadfael und andere Romane von Ellis Peters (Edith Pargeter)
Jürgen Lankowski, David Eisermann, K. Schatzhauser u.a.
Ellis Peters - Edith Pargeter - eine Frau mit vielen Talenten
Ellis Peters (1913-1995) war eine englische Schriftstellerin, Edith Mary Pargeter ihr bürgerlicher Name. Sie erlernte zunächst den Beruf der Apothekerin. Ab 1940 arbeitete sie in der Kommunikationsabteilung des „Women’s Royal Navy Service“, wofür ihr die „British Empire Medal“ verliehen wurde. Sie wurde in Horshay, England geboren und starb in Shropshire. Edith Pargeter wurde bekannt als Autorin neuzeitlicher Kriminalromane, den Inspektor-George-Felse-Romanen (ab 1951). Berühmtheit erlangte sie allerdings zwanzig Jahre später mit ihrem Benediktinermönch Bruder Cadfael (unter dem Pseudonym Ellis Peters). Ein Teil dieser Romane bildete die Vorlage für eine Verfilmung für das britische Fernsehen mit dem englischen Schauspieler Sir Derek Jacobi in der Titelrolle (von 1994-1996). Die Serie lief auch synchronisiert im deutschen Fernsehen und ist als DVD-Sammlung erhältlich. Ihre Bücher erhielten zahlreiche Auszeichnungen und wurden in mehr als 15 Sprachen übersetzt. Weitere Romane von Edith Pargeter/Ellis Peters: Die „Heaven-Tree-Trilogie (zu Deutsch: Der Baumeister von Albion, Das Erbe des Baumeisters, Die Rückkehr des Baumeisters); die historische „Jim-Benison-Trilogie sowie ihre vier Romane um Llwelyn Gwynedd (The Brothers of Gwynedd), die sich mit der walisischen Geschichte beschäftigen. Daneben galt ihr Interesse dem tschechischen Volk und seiner Literatur. 16 Werke übersetzte sie ins Englische. 1968 erhielt sie von der Tschechischen Gesellschaft für internationale Beziehungen die Goldmedaille am Band.
Bruder Cadfael - Stories
Die Romane umfassen einen Zeitraum von ca. neun Jahren. Der erste Roman (Im Namen der Heiligen) ist im Jahr 1137 angesiedelt. Der letzte (Bruder Cadfaels Buße) spielt 1145. Es gibt eine Chronologie der insgesamt 20 Fälle, die man einhalten kann bei der Lektüre, aber nicht muss. Der Erzählband „Das Licht auf der Straße nach Woodstock“ enthält drei Kurzgeschichten. In der ersten, auf die sich auch der Titel bezieht, erfährt man etwas mehr über Cadfaels Herkunft und seinen Eintritt in das Benediktinerkloster. Cadael, geboren um 1080 in Wales, ist ein ehemaliger Kreuzzugsteilnehmer, den es um 1120 in seine Heimat Wales zurückzieht. Im Gefolge eines Ritters kommt er in die Gegend von Shrewsbury, löst dort seinen ersten Fall (Bruder Cadfael und das Licht auf der Straße nach Woodstock) und entschließt sich, nicht nach Wales weiter zu ziehen, sondern in das Benediktiner Kloster in Shrewsbury einzutreten. In den folgenden Jahren gerät er immer wieder in rätselhafte Kriminalfälle, die er mit seinem Freund, dem Sheriff Hugh Beringar, zusammen löst und Unschuldige vor dem sicheren Tod bewahrt oder junge Menschen vor einer Zwangsheirat. Er hat es mit Mördern, Erbschleichern, Habgierigen, Verzweifelten, Verirrten und Kranken zu tun. Immer wieder siegen seine Menschlichkeit und sein Sinn für Gerechtigkeit über das Böse. Das mag ein wenig nach Gutmenschentum klingen, aber man muss ihn einfach lieben und wünscht sich mehr von seiner Art. Er ist gütig und seine Erfahrungen in der Welt haben ihn tolerant gemacht. So sieht er mehr und tiefer als die meisten anderen und entdeckt, was ansonsten verborgen bliebe.
Geschichtlicher Hintergrund Bruder Cadfael lebt in einer für England besonders schweren Zeit. Zwei Herrscher streiten sich um den Thron, einmal die Kaiserin Maud und dann König Stephen von Blois. Beide bestehen auf ihrem Thronanspruch. Und so wird das Land über viele Jahre von Krieg überzogen, die jeweiligen Kämpfer für eine Partei, aber auch Marodeure und Räuber suchen das Land und seine Bevölkerung heim. Parteien wechseln die Seiten, kehren wieder zurück, werden selbst getötet, andere nehmen ihre Stelle ein. Shrewsbury liegt mit seinem Kloster noch verhältnismäßig friedlich, aber auch hier spüren die Menschen die Auswüchse des Krieges. Flüchtlinge kommen von Zeit zu Zeit aus anderen Regionen des Landes und suchen Zuflucht. Kreuzfahrer, die im Orient schwere Verletzungen erhielten, suchen Hilfe im Kloster, ebenso Lepra- und andere Kranke. Ich finde es schwer, bestimmte Romane auszuwählen, da sie mir alle gefallen. Aber meine liebsten (wenn ich nicht gerade die anderen wieder lese) sind drei Romane.
Ein ganz besonderer Fall
Im August 1141 hat wieder einmal eine der beiden Kriegsparteien eine Stadt, in diesem Fall Winchester, angegriffen. Die Menschen fliehen vor den Kämpfen und den Übergriffen der Soldateska. Im Benediktinerkloster von Shrewsbury suchen u.a. zwei Brüder Zuflucht, Humilis und Fidelis. Bruder Humilis, um einiges älter als Fidelis, leidet schwer an einer früheren Verwundung und es ist fraglich, wie lange er noch zu leben hat. Bruder Fidelis, der stumm ist, kümmert sich aufopfernd um ihn. Beide umgibt eine Art Geheimnis, das Bruder Cadfael zunehmend zu interessieren beginnt, zumal der Fall einer jungen Frau, die vor Jahren verschwunden ist, mit einem Mal wieder an Bedeutung gewinnt. Und Bruder Cadfael möchte natürlich herausfinden, was es damit auf sich hat. Die Lösung ist ebenso einfach wie problematisch, besonders für das Kloster.
Mich berührt sehr, wie Ellis Peters die beiden Handlungsstränge zusammenführt. Es ist eine traurige, tragische, aber auch von tiefer Humanität getragene Fabel. Und dass die Autorin wunderbare Liebesszenen schreiben kann, zeigt sich einer Stelle gegen Ende des Romans ganz besonders. Liebe ist hier in einem viel tieferen Sinn gemeint und hat mit unseren heutigen sex-akrobatischen Verrenkungen in vielen Romanen nicht das mindeste zu tun. Es ist wohl gerade diese Szene, die mir das Buch unvergesslich macht.
Buder Cadfael und die schwarze Keltin
Cadfael muss sich 1144 mit Bruder Mark auf eine diplomatische Reise in das unsichere Wales begeben. Er kennt Mark von früher, als dieser noch als Novize mit ihm in Shrewsbury lebte. Inzwischen ist Mark in der Ordenshierarchie aufgestiegen und wegen seiner diplomatischen Art als Vermittler gefragt. Für seine gefährliche Mission zu Owain, dem Fürsten von Gwynedd, hat er sich Cadfael erbeten. Auf ihrer Reise lernen sie eine ausnehmend schöne junge Frau kennen, eine Keltin namens Heledd. Sie soll einen Mann heiraten, den sie nicht kennt und den sie auch nicht will. Natürlich geschieht ein Mord, Owains Bruder Cadwaladr spielt falsch und will die Macht an sich reißen, die räuberischen Dänen kommen ins Spiel. Was Cadwaladr mit ihnen zu tun hat, was Heledd im Schilde führt, um der ungeliebten Heirat zu entkommen und wie sich Bruder Cadael und Bruder Mark dazu verhalten, das ist ebenso spannend wie teilweise amüsant zu lesen. Und wieder ist es die Menschlichkeit der beiden Mönche, die alles zu einem guten Ende führt. Und auch hier gibt es am Ende eine wunderschöne, ja poetische Liebesszene, die es sich lohnt, immer wieder einmal zu lesen und sich an ihr zu erfreuen.
Bruder Cadfaels Buße
Cadfael lebt zufrieden in seinem Kloster, er hat sich mit den kleinen und größeren Schwächen seiner Mitbrüder arrangiert und ist alt geworden. Da wird ihm Nachricht von seinem Sohn Olivier de Bretagne überbracht. Von dessen Existenz hatte er lange nicht gewusst. Erst im Jahr 1139 begegnet er ihm (Die Jungfrau im Eis) und kann ihm zu seinem Glück verhelfen. Nun, im Jahr 1145, erfährt Cadfael, dass sein Sohn in die Hände eines Warlords, Philip FitzRobert, gefallen ist, der ihn in seiner Burg La Musarderie gefangen hält. Es scheint ein sehr persönliches Motiv dafür zu geben. Cadfael bittet um Erlaubnis, um nach seinem Sohn zu suchen und ihn womöglich zu befreien, aber der Abt gewährt ihm den dafür nötigen längeren Urlaub nicht. Und so handelt Cadfael zum ersten Mal gegen die Ordensregel und macht sich auf die Suche nach seinem Sohn.
Noch einmal zieht der nun 65-jährige Cadfael aus, muss einen Mord aufklären und gerät nach langer Zeit wieder in die Welt der Ritter und Kämpfer, muss sich mit ihrem Ehrenkodex auseinandersetzen, der sie nicht hindert, je nachdem die Seiten zu wechseln und ihre einstigen Gönner zu verraten. Verrat gibt es allerdings auf allen Seiten ebenso wie Verschwörungen und Kämpfe um Macht und Geld. Dennoch gilt, dass auch ein Widersacher auf seine Weise ehrenhaft sein kann und nicht nur ein Unmensch zu sein braucht. Dies zeigt Ellis Peters am Beispiel Philip FitzRoberts, der einer historischen Gestalt nachempfunden ist.
Bruder Cadfael weiß nicht, ob er nach Beendigung seiner Mission wieder in Shrewsbury in seinem Kloster, das in vielen Jahren zu seiner Heimat geworden ist, aufgenommen wird. Er geht jedes Risiko für die Rettung seines Sohnes ein. Und am Ende rettet er auch noch einen ganz anderen, einen, von dem man das nicht erwartet hätte. Aber so ist Cadfael nun einmal.
Was die Romane auszeichnet und was sonst noch zu sagen wäre
Die Filme mit Sir Derek Jacobi sind auch heute noch sehenswert und von guter Qualität, wenn auch klar ist, dass sie in 90er Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden sind. Aber mir ist der Cadfael der Romane in seiner hier stärker zum Tragen kommenden Menschlichkeit doch näher und damit lieber. Die meisten Romane sind bei Heyne erschienen, mittlerweile aber nur noch gebraucht oder als E-Book zu bekommen. Die Krimis um Inspektor Felse gibt es nur noch gebraucht. Auch diese Romane, die in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in Wales, Cornwall oder anderen Regionen bzw. Ländern in Europa spielen, sind lesenswert
Ob es sich um die Geschichten um Bruder Cadfael oder die anderen Romane wie die um Inspektor George Felse handelt: Immer sind sie gut recherchiert, fundiert im Plot und im Aufbau. Darüber hinaus sind sie menschlich berührend, nie auf das heute vielfach übliche platte bzw. reißerische Sex and Crime sells only aus. Es gibt keine Gewaltexzesse, die Täter sind in der Regel Menschen, die sich einer Notlage befinden oder an sich und ihren Fehlern scheitern. An vielen Stellen bietet Ellis Peters eine psychologische Vertiefung ihrer Charaktere, die sie umso glaubwürdiger machen. Sie hat Humor und ihre Kenntnisse als Apothekerin bringt sie mit Bruder Cadfael als ihrem berühmtesten Protagonisten vielfältig ein. Ellis Peters war sehr an Geschichte interessiert, insbesondere an der o.g. Zeit. In ihren Romanen wird die Zeit des 12./13. Jahrhunderts lebendig mit all ihren Schatten- aber auch ihren guten Seiten. Ihr Interesse galt auch der Geschichte Wales und dessen Aufbegehren gegen die englische Herrschaft (s. Brothers of Gwynedd). Shrewsbury liegt an der Grenze zu Wales. Ellis Peters hat ein enormes geschichtliches Wissen, das sie in ihre Romane um Bruder Cadfael einbringt. Neben Mord und Liebe erfährt der Leser/die Leserin viel über englische und walisische Geschichte.
Heyne - u.a. 1991, 2002, 2003 - Buch
1079
Petrovic, Goran
Goran Petrovic - Die Villa am Rande der Zeit
Übersetzung: Suzanne Böhm-Milosavljevic
Goran Petrovic - Die Villa am Rande der Zeit
Goran Petrovic, geboren 1961 in Kraljevo (Serbien), Studium jugoslawische und serbische Literatur in Belgrad. Er arbeitet zudem als Verlagslektor und Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste. In Serbien zählt er zu den wichtigsten und meistgelesenen Autoren, vielfach ausgezeichnet. Für „Die Villa am Rande der Zeit“ erhielt er den renommierten NIN-Preis (ein Preis, der von einem wöchentlich erscheinenden serbischen Nachrichtenmagazin in Belgrad verliehen wird). Der Roman war ein Bestseller in Serbien und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Adam, Student in Belgrad, hat eine eigenartige Fähigkeit: Er kann in Bücher hineingehen und andere Leser sehen und sie beobachten. Diese Fähigkeit bleibt nicht ganz verborgen. Da Adam schauen muss, wie er sein Leben finanziert, nimmt er ein anfangs harmlos scheinendes Angebot an. Er soll einen vor langer Zeit veröffentlichten Roman überarbeiten. Adam macht die Erfahrung, dass es mit diesem Buch eine besondere Bewandtnis hat. Er kann nämlich auch in dieses Buch hineingehen und verschiedenen Menschen des 20. Jahrhunderts begegnen, die seinem Zauber ebenfalls erlegen sind. Für viele ist es ein Zufluchtsort, an dem sie sich verstecken können vor den Machenschaften der Mächtigen, vor Verfolgern und Despoten. Er bemerkt, dass er in diesem Buch spazieren gehen, ja, sogar Bereiche entdecken kann, von denen der ursprüngliche Autor selbst gar nichts wusste. Adam lernt dessen Lebens- und Liebesgeschichte kennen und seine eigene große Liebe. Doch nicht alle Menschen, die in diesem Buch leben und schon gar nicht Adams Auftraggeber haben ein unschuldiges Interesse an dem Werk. Adam muss lernen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, um seine Liebe zu kämpfen und sich entscheiden, wie viel ihm das Buch wert ist.
Glücklich, wer in ein Buch hineingehen kann ...
Der Titel des Buches faszinierte mich auf Anhieb. Er war der Grund, dass ich mich darauf einließ, sonst erst einmal nichts. Ich wusste nichts über das Buch oder den Autor. Ich verliebte mich auf Anhieb in die Geschichte und liebe vor allem die Vorstellung, in ein Buch hineingehen zu können und den dort lebenden Menschen zu begegnen, ja Bereiche zu entdecken, die selbst dem Autor verborgen blieben, an die er überhaupt nicht gedacht hat. Das ist unwiderstehlich erdacht, sinnlich und poetisch geschrieben. Es zu lesen macht Spaß und ist ein einziges Abenteuer. Witzig, intelligent, spannend, skurril, ernsthaft und kritisch – alles, was mein Literaturherz begehrt. Aber Vorsicht: Die heile Welt findet sich hier nicht, im Gegenteil. Doch es gibt Hoffnung, klug und geschickt damit umzugehen und sich und die Welt zu retten.
Dtv - 2010 - Buch
1093
Safranski , Rüdiger
Rüdiger Safranski – Hölderlin - Biographie
Rüdiger Safranski - Komm‘ ins Offene, Freund!
Rüdiger Safranski(* 1. Januar 1945 in Rottweil) ist ein deutscher Literaturwissenschaftler, Philosoph und Schriftsteller. Autor verschiedener Werke über E.T.A. Hoffmann, Friedrich Nietzsche, Friedrich Schiller, J.W. Goethe. Autor von Büchern wie: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch; Das Böse oder das Drama der Freiheit u.a.m.
Hölderlin, der Fremdling unter den Sterblichen
Wie offen soll, kann, darf das Offene sein? Was ist, wenn man sich darin verliert? Hölderlin ist mir immer fremd geblieben. Es gibt einige Gedichte von ihm, die ich mag bzw. sehr mag (An die Parzen z.B.). Aber in der Regel ist mir seine Sprache viel zu verstiegen, unverständlich und umständlich und seine Griechenlandliebe und -Verklärung vollends befremdlich. Doch 2020 ist ein Erinnerungsjahr für den 1770 geborenen Dichter. Also dachte ich, schau doch mal, was es an Werken über bzw. zu ihm gibt. So stieß ich auf Rüdiger Safranskis Buch.
Ich kenne verschiedene Bücher dieses Autors und war immer sehr angetan. Bei diesem Buch bin ich ein wenig gespalten. Einerseits ist es fundiert, sachlich und informativ. Ich habe viel über Hölderlin gelernt – seine Herkunft, seine Familie, die schwierige Beziehung zur Mutter, zur Religion, seine Träume und Pläne, seine Höhenflüge und sein Scheitern. Da ich nicht so viel über den Dichter wusste, war das nicht weiter verwunderlich. Auch einige Texte hat Safranski mir näher gebracht, wie Passagen aus „Brot und Wein“. Das ist wirklich eine Bereicherung.
Andererseits fehlt mir eine kritischere Auseinandersetzung mit der Wirkung des Dichters auf seine Nachfahren vor allem im 20. Jahrhundert. Es ist ja gar nicht so einfach nachzuvollziehen, wieso ein Dichter aus dem 18./19. Jahrhundert, der von vielen seiner Zeitgenossen schon früh für verrückt gehalten wurde, später für bestimmte Kreise, literarisch wie politisch, so wichtig bzw. zum Mythos verklärt werden konnte. Von diesen Kritikpunkten abgesehen ist das Buch sehr lesenswert und lesbar.
Wer an einer sehr kritischen Auseinandersetzung mit dem Dichter interessiert ist, dem empfehle ich das Buch/den Essay von Karl-Heinz Ott – Hölderlins Geister, Hanser 2019. S. meine Besprechung dort
Carl Hanser Verlag - 2019 - Buch
1095
Safranski , Rüdiger
Rüdiger Safranski - Goethe & Schiller
Rüdiger Safranski - Goethe & Schiller - Geschichte einer Freundschaft
Rüdiger Safranski (* 1. Januar 1945 in Rottweil) ist ein deutscher Literaturwissenschaftler, Philosoph und Schriftsteller. Autor verschiedener Werke über E.T.A. Hoffmann, Friedrich Nietzsche, Friedrich Schiller, J.W. Goethe. Autor von Büchern wie: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch; Das Böse oder das Drama der Freiheit u.a.m.
Geschichte einer Freundschaft
„Ich finde augenscheinlich, daß ich über mich selbst hinausgegangen bin, welches die Frucht unsres Umgangs ist.“ Schiller an Goethe, 5. Januar 1798
„Sie haben mir eine zweite Jugend verschafft und mich wieder zum Dichter gemacht, welches zu sein ich so gut als aufgehört hatte.“ Goethe an Schiller, 6.Januar 1798
So haben Sie Goethe und Schiller noch nie gesehen!
Vorab ein offenes Geständnis: Ich liebe dieses Buch. Rüdiger Safranski hat es geschafft, mir die beiden Heroen der deutschen Dichtung und des Geistes nahezubringen. Und das so gar nicht heroisch oder gravitätisch, sondern frisch und kenntnisreich, nicht überkandidelt, sondern wirklich an den beiden Dichtern und Denkern interessiert, und vor allem an ihrer Freundschaft. Einer Beziehung, die sich ganz langsam entwickelt: von Ablehnung (Goethe), verletzter und abgewiesener Bewunderung, die sich in Zorn verwandelt (Schiller), bis hin zu einer vorsichtigen Annäherung Jahre später und die dann, nach dem ersten Zusammentreffen im Gespräch in rasantem Umschlagen in einhellige gegenseitige Bewunderung, ja Liebe mündet.
Diese Freundschaft ist alles wert
Rüdiger Safranski stellt mit viel Empathie und Freude die Geschichte dieser wunderbaren Freundschaft dar, beschreibt ihre Entwicklung, lässt sich Zeit für die jeweiligen Biographien und Lebenssituationen und zitiert oft und gerne aus dem Briefwechsel der Beiden, die sich zeitweise jeden Tag schrieben, überhaupt viel Zeit miteinander verbrachten. Goethe nimmt auf Schillers Gesundheitszustand Rücksicht, Schiller auf Goethes persönliche Lebensverhältnisse. Sie geben einander Ratschläge, bitten um die Meinung des anderen, nehmen sie an oder verwerfen sie nach längerem Nachdenken – bleiben dabei einander gewogen.
Freundschaft, die den anderen sein lässt und ihn gleichzeitig anfeuert
Es ist wunderschön zu lesen, wie Goethe und Schiller sich gegenseitig bereichern, herausfordern und anfeuern. Und durchaus erkennen, wo ihre Grenzen sind, sie akzeptieren und sich im Respekt für einander so sein lassen, wie sie sind. So soll Freundschaft sein.
Ein Buch, wie ich es mir wünsche
Es macht Lust, sich wieder mehr mit Goethe und Schiller zu beschäftigen. Der Gedankenaustausch der beiden ist nicht immer einfach zu lesen bzw. zu verstehen, insbesondere die Ausflüge in die philosophischen Betrachtungen. Das verlangt einiges an Aufmerksamkeit, Anstrengung und Geduld mit ihnen und sich selbst. Das ist es aber wert.
Als Hörbuch z.B. liegt der Briefwechsel der beiden vor. Z.B: Der Briefwechsel zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Gelesen von Will Quadflieg und Gert Westphal, Deutsche Grammophon, 2005
Carl Hanser - 2009 - Buch
1069
Sayers, Dorothy L.
Ärger im Bellona-Club
Aus dem Englischen von Otto Bayer
Originaltitel: The Unpleasentness at the Bellona Club
Datum der Erstveröffentlichung: 1928
Inhalt
„Wimsey, was in aller Welt suchen Sie denn in dieser Leichenhalle?“ fragte Hauptmann Fentiman und warf, wie von einer lästigen Pflicht erlöst, seinen „Evening Banner“ beiseite.“
Mit diesen Worten beginnt das Buch. Der Ort, der so lieblos als „Leichenhalle“ bezeichnet wird, ist der Bellona-Club, eine altehrwürdige Institution für teils eben so alte und dazu sehr honorige Mitglieder. Frauen sind hier unerwünscht. Reine Männersache, Altherrensache sozusagen. Und man weiß bei einigen nicht, ob sie noch leben oder ob sie schon als Mumien in ihren bequemen Sesseln sitzen. Und damit ist im Grunde der Leser/die Leserin schon mitten im Thema. Der Roman spielt Anfang der 1920er Jahre. Es geht um eine Leiche, die im Beisein von Lord Peter gefunden wird und bei der nicht klar ist, wie lange sie denn da schon liegt bzw., wann der Mann verstorben ist. Anfangs gehen alle von einem natürlichen Tod aus, doch mit der Anwesenheit des Gentleman-Detektivs Lord Peter nimmt der Fall eine für manche unerwünschte Wendung. Und in der Folge sieht er sich mit einigen schwierigen Fragen konfrontiert: Wann und woran starb der alte Fentiman, Großvaters des o.g. Hauptmanns, wirklich? Damit nicht genug: Fast zeitgleich starb seine Schwester, die auch viel Geld hinterlässt. Wer also starb wann und vor allem: Wer vor wem? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt u.a. ab, an wen das reichhaltige Erbe der alten Geschwister fällt. Wenn es sich nicht um einen natürlichen Tod, sondern um Mord handelt, wie wurde er bewerkstelligt und natürlich von wem? Lord Peter lernt in diesem Fall so einiges über die menschliche Natur und ihre Licht- und Schattenseiten bzw. Abgründe. Das Ende ist ein wenig unkonventionell, aber in seiner Konsequenz schon wieder very british. Und die Sprache ist dies sowieso.
Worum geht es – außer um Mord? Und ist das heute noch interessant?
Um Alter und Einsamkeit, das Festhalten an starren Gepflogenheiten und Regeln, natürlich um Habgier und Egoismus, um die Folgen des Krieges (des 1. Weltkrieges) und die Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft. Dorothy Sayers weist auf die Situation der Soldaten hin, die krank an Leib und Seele aus dem Krieg zurückkehrten und denen außer lobenden Worten und organisierten Gedenktagen keine Anerkennung oder gar Entschädigung zuteil geworden ist. In der Person Georges, des Bruders Hauptmann Fentimans, weist sie auf die Kriegstraumata hin, an denen viele Soldaten leiden. Sayers beschreibt die Probleme, die sich für George daraus ergeben. Er ist nicht wirklich arbeitsfähig, da er unter so genannten Flashbacks leidet (wie wir das heute nennen). Sie versetzen ihn in einen hilflosen Zustand, in dem er verrückte Dinge tut, an die er sich im Nachhinein nicht mehr erinnern kann. Er neigt zu aggressivem Verhalten und kommt nicht damit klar, dass seine Frau mehr und mehr die Rolle der Ernährerin übernehmen muss. Schon hier setzt sich Dorothy Sayers mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft auseinander. Die verschiedenen Frauenfiguren in diesem Roman stellen verschiedene Möglichkeiten für Frauenleben dar: Angepasst, leidend, auf den Mann bezogen oder nach Eigenständigkeit suchend wie Marjorie Phelbs, ein frühes Alter Ego der Schriftstellerin.
Diese Themen sind selbstverständlich (leider) auch heute noch aktuell.
Fazit:
Schon in „Ärger im Bellona-Club“ zeigt sich, dass Sayers zunehmend nicht mehr an den früheren Kriminalgeschichten interessiert ist. Ja, indirekt thematisiert sie die Belanglosigkeit, ja manchmal Geschmacklosigkeit, die diese Spielart der Krimi-Romane mit ihrer Freude an intellektuellen Gedankenexperimenten mit sich bringen kann. Denn die Anordnung des Plots folgt zwar diesen Vorgaben. Aber die Geschichte entwickelt sich mehr und mehr zum Portrait einer in sich erstarrten, verlorenen, weil vom Trauma des Krieges gezeichneten Gesellschaft. Lord Peter, aufgrund seiner herausgehobenen gesellschaftlichen Position anfangs ein eher unbeteiligter Beobachter, wird mehr und mehr in das Drama hineingezogen. Und es zeigt sich, wenn auch erst ansatzweise, dass auch er in gewisser Weise ein Versehrter ist. Dies allerdings wird erst in späteren Romanen deutlicher ausgearbeitet. Die Sprache ist, wie stets bei Dorothy Sayers, einerseits ein reines Vergnügen, sarkastisch, ironisch, witzig. Aber auch immer wieder nah an den Menschen. Mitgefühl ist Lord Peter durchaus nicht fremd. Sentimentalität schon. Wie seiner Schöpferin.
rororo TB - 1989 - Buch
1070
Sayers, Dorothy L.
Aufruhr in Oxford
Roman / Kriminalroman - Aus dem Englischen von Otto Bayer - Originaltitel: Gaudy Night - Englische Erstausgabe 1935
Zur Person
Dorothy Sayers (1893 – 1957), Tochter eines Pfarrers und Schuldirektors, gehörte zu den ersten Frauen, die an der Universität ihres Geburtsortes Oxford Examen machten. Sie war Lehrerin, arbeitete für zehn Jahre in einer Werbeagentur, veröffentlichte früh religiöse Gedichte und Geschichten. Später ging sie zu Detektivromanen über. Ihre über zwanzig Bücher in diesem Genre gehören zu den Klassikern der Literaturgeschichte. Ihre Geschichten sind in der Regel sorgfältig aufgebaut und recherchiert, bestechen durch psychologische Grundierung und Charakterzeichnung und eine ethische Haltung. Darüber hinaus sind sie sprachlich anspruchsvoll, dabei oft witzig und sehr pointiert. Sayers Gentleman-Detektiv Lord Peter Wimsey avancierte zu ihren Lieblingscharakteren und als sie seiner ein bisschen überdrüssig wurde und andere Literatur schreiben wollte, kam es zu Protesten. Sie fand dann eine alle Seiten versöhnende Lösung für sein Weiterleben.
Inhalt
Die Story ist im Jahr 1935 in England, Oxford, angesiedelt. Harriet Vane, Krimiautorin, wird von ihrer früheren Universität in Oxford zu Hilfe gerufen. Immer wieder tauchen an unterschiedlichen Orten im Frauencollege Schmähschriften auf, die sich gegen das Frauenstudium im Allgemeinen, aber auch gegen bestimmte Professorinnen und Studentinnen richten. In dieser Situation erinnert man sich an Harriet Vane und bittet sie, die schon bei polizeilichen Untersuchungen in der Vergangenheit geholfen hatte, um Rat und Beistand. Sie soll inkognito Ermittlungen anstellen, denn die Universitätsleitung möchte kein Aufsehen erregen, um die Reputation der Universität im Allgemeinen und des Frauenstudiums im Besonderen nicht zu gefährden. Offiziell ist sie an der Universität, um eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben. Im Zuge der detektivischen Tätigkeit muss sie erkennen, dass die Sache immer gefährlicher wird: Zunächst sieht es nach Studentenulk oder den Taten einer Art Poltergeist aus. Doch dann eskaliert die Sache: Studentinnen werden mit Drohbriefen traktiert, eine von ihnen unternimmt einen Selbstmordversuch, ein Mordanschlag wird auf eine Professorin verübt. Auch die Stimmung unter dem Lehrpersonal wird schwieriger, Konflikte brechen auf, es scheint, jede verdächtigt jede. Dennoch gibt es so etwas wie Zusammenhalt unter den Studentinnen und Professorinnen.
Harriet Vane ist immer noch belastet mit ihrer Vergangenheit, die sie dem gesellschaftlichen Aus nahe gebracht hatte. Sie hadert mit sich und ihren Entscheidungen und Lord Peter Wimsey. Er ist der Mann, der sie mit seinem detektivischen Scharfsinn vor dem Schafott (in „Starkes Gift“) bewahrt hat und ihr seitdem in unverbrüchlicher, wenn auch wenig erwiderter, Zuneigung verbunden ist. Ihre persönlichen Konflikte behindern zunehmend ihre Aufgabe. In dieser schwierigen und spannungsgeladenen Situation überwindet sie sich und ihren Stolz und ruft Lord Peter zu Hilfe. Er lässt sie natürlich nicht im Stich und gemeinsam machen sie sich, wie schon in der Vergangenheit, auf die Suche nach dem Täter oder der Täterin.
Was das Buch lesenswert macht
Ich war 19 Jahre alt, als ich „Aufruhr in Oxford“ las. England, Oxford, Frauenstudium, das fand ich interessant. Lord Peter Wimsey begegnete mir hier zum ersten Mal. Das war dann der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Obwohl bereits 1935 geschrieben, erscheint es mir mit seinen Themen durchaus aktuell. Bis heute gibt es eine fundamentale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Zwar hat die feministische Bewegung für Europas Frauen viel bewegt. Doch in vielen Teilen der Welt sind Frauenrechte Utopie. Und auch hierzulande gibt es viel zu tun. Vor allem, wenn jüngere Frauen glauben, alles sei erreicht und sie bräuchten den ganzen frauenbewegten Plunder nicht mehr. Nichts falscher als dieses Denken.
Kritiker des Buches bemängelten, es sei weniger ein Kriminal- als ein Gesellschaftsroman, zumal es kein Mordopfer gibt. In gewisser Weise stimmt das, wenn man postuliert, dass ein Krimi nur dann einer ist, wenn es Tote bzw. Mörder und ihre Opfer gibt. Und wenn man weiterhin fordert, in einem 'richtigen' Krimi dürfe der Plot nicht zu anspruchsvoll oder von gesellschaftlicher Bedeutung sein. Das mag in Zeiten, in denen Krimis als sportliche Rätselaufgaben betrachtet wurden, in etwa zutreffen. Aber heute sieht man das genau andersherum: Reine Rätselaufgaben empfinden LeserInnen nun als zu mager. Ein bisschen Inhalt mit Relevanz darf es dann doch sein.
Insofern ist „Aufruhr in Oxford“ nicht altmodisch. Und heute interessiert die Zeit, in der der Roman spielt, mehr als noch vor einigen Jahren. Weit genug weg von der Jetztzeit, aber nah genug, um sich noch erinnern zu können, wenn man das möchte. Gerade die 1930er Jahre sind im Augenblick von den Medien in den Blick genommen worden.
Aber auch die Themen sind immer noch aktuell: Rollenverständnis Frau – Mann, Rolle der Frau in der Gesellschaft, als Ehefrau und Mutter oder als alleinstehende Frau im Beruf, als Wissenschaftlerin oder Managerin eines Colleges oder anderer Professionen. Wie gehen Eltern mit ihren Kindern um, wie viel Einfluss in der Erziehung ist nötig, ab wo ist er schädlich, weil nur die eigenen Vor- und Misslieben bzw. Vorurteile weitergegeben werden? Was bedeuten Integrität und eigene Vorstellungen vom Leben in einer Partnerschaft? Wie wichtig ist mir, dass mein Partner in unserer Beziehung gleichwertig und gleichberechtigt ist – nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern als gelebte Wertvorstellung? Wie wichtig ist Integrität in der Wissenschaft?
Diese und andere Fragen werden teils diskutiert von den Protagonisten und ihrem Umfeld, teils am Beispiel aufgezeigt. Nicht in schulmeisterlichem Ton, sondern verständlich und durchaus mit Humor und Wortwitz. Natürlich spielt dann doch die sich endlich, nach fünfjähriger Wartezeit für Lord Peter, anbahnende Liebesgeschichte eine Rolle.
Fazit:
Das Buch hat mich und meine Sichtweise auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft nachhaltig beeindruckt und beeinflusst. In Romanform wird alles Wesentliche, was zu diesem Thema gesagt werden kann, auf den Punkt gebracht, teils durch die Handlung, teils durch die Diskussionen. Was darüber hinaus wichtig ist: Dorothy Sayers erzählt hier durch ihre Figur Harriet Vane über das Schreiben und seine Bedeutung für sie selbst. Das ist außerordentlich aufschlussreich. Und eines muss vielleicht noch gesagt werden: Durch das Auftauchen von Harriet Vane in den Lord-Peter-Wimsey-Romanen wird er eigentlich erst zu einem Menschen. Ist er in den ersten Romanen ein Tausendsassa, ein Gentleman-Detektiv, einer, der seine neugierige Nase überall reinstecken muss und eben dabei Mordfälle aufklärt, so entwickelt er sich in den folgenden Büchern immer mehr zu einer Persönlichkeit mit Biographie, Familie und gesellschaftlichem Background. Aber erst mit dem Auftauchen von Harriet Vane wird er zum Menschen, zu einem, dem man gerne einmal begegnet sein möchte.
rororo TB - - Buch
1071
Sayers, Dorothy L.
Mord braucht Reklame
Aus dem Englischen von Otto Bayer - Titel der englischen Erstausgabe: Murder Must Advertise, 1933
Ein adeliger Detektiv und die Folgen
Lord Peter Wimsey ist Dorothy Sayers (englische Schriftstellerin, 1893-1957) erfolgreichste Figur. Zu Anfang ist er ein reicher Müßiggänger, Snob, Partylöwe und Tausendsassa, der sich als Hobby-Detektiv dem Lösen von Kriminalfällen widmet. Ursprünglich waren die Geschichten von Sayers erdacht worden, um sich mit ihnen etwas Geld dazu zu verdienen und ganz in der Tradition der Crime-and-Mystery-Stories konzipiert als eine Art Rätselsportaufgabe, die ein intellektuelles Vergnügen bietet. Dazu gehörten verzwickte Ausgangssituationen, verschlossene Räume, in denen ein Mord stattgefunden hat, wie, wer, wo, wann und warum – who done it? Diese Fragen clever und klug aufzuwerfen, viele falsche Fährten zu legen, den Leser/die Leserin intelligent zu unterhalten, am Ende die überraschende Lösung zu bieten, auf die nur die cleversten Spürnasen kommen, das gehörte zum Spiel und war das eigentliche Spiel. So arbeitete auch Agatha Christies Hercule Poirot, so Sherlock Holmes und die anderen Stammväter der Crime-Novels spätestens seit Edgar Allan Poes „Die Morde in der Rue Morgue“.
Dennoch warfen Kritiker Dorothy Sayers eine Art Eskapismus vor, sich ihren Traummann in der Figur Lord Peters geschaffen und ihm eine Traumbiographie erdichtet zu haben. Das mag teilweise stimmen. Aber das tut der Figur und den Geschichten keinen Abbruch. Lord Peter ist mit Absicht so konzipiert wie er sich zu Anfang darstellt, doch im Laufe der Zeit entwickeln sich die Bücher immer mehr zu Kriminalromanen mit gesellschaftlichem Hintergrund, psychologischer Grundierung und exzellenter Charakterzeichnung. Sayers Held, Lord Peter, wird zu einer ernstzunehmenden Persönlichkeit. Sie gibt ihm mit wachsendem Erfolg ihrer Bücher eine Biographie mit, einen Stammbaum, eine Familie, einen gesellschaftlichen Hintergrund. Auch seine Erlebnisse während des ersten Weltkrieges werden thematisiert. Sein ehemaliger Untergebener im Krieg, Mervyn Bunter, wird sein Butler. Aber er ist viel mehr als das.
Moderne Krimischriftstellerinnen wie Elizabeth George und andere berufen sich auf Dorothy Sayers, die als eine der ersten mit ihren Romanen eine andere Art der Kriminalliteratur präsentierte.
Inhalt
Lord Peter Wimsey ermittelt undercover in einer renommierten Werbeagentur. Ein Mitglied der Belegschaft ist eine Treppe hinunter gestürzt. War es ein Unfall oder Mord? Ein anonymes Schreiben, das kriminelle Machenschaften andeutet, die von dem Unternehmen ihren Ausgang haben sollen, stürzt den Leiter der Agentur in große Besorgnis. Durch Vermittlung kommt Lord Peter an diesen Job. Er wird Werbetexter. Für jemand wie ihn, Universitätsausbildung, wortgewandter Salonlöwe und Liebhaber von Shakespeare und anderen literarischen Größen kein Problem. Allerdings hat die Werbebranche auch ihre Tücken. So muss man bei der Formulierung der Texte ein bisschen aufpassen. Denn offenes Lügen ist nicht erlaubt. Schnell bekommt Lord Peter Kontakt zu den Angestellten der Agentur, dabei besonders zu Mr. Ingleby und Miss Meteyard, beide scharfzüngig, unangepasst und sehr klug. Lord Peter mausert sich zu einem professionellen Werbetexter und die Arbeit macht ihm sogar Spaß.
Weniger Spaß bereitet der Kriminalfall. Was geschah wirklich? Was hat es mit den Machenschaften auf sich? Geht es um Rauschgift? Und wie viele Personen sind involviert? Lord Peter muss alle Kräfte mobilisieren, auch die seines Schwagers, Chiefinspektor Parker, um der Sache auf den Grund zu gehen und den/die Täter zu finden. So spaßig die Arbeit in der Agentur sein mag, das Ende ist für Lord Peter schmerzhaft.
Fazit:
Dieses Buch ist eines der unterhaltsamsten von Dorothy Sayers. Ihre Erfahrungen in einer Werbeagentur kommen ihr hier zu Gute. Die Szenen, die dort spielen, sind hinreißend, erinnern an ein Theaterstück. Viele Dialoge, witzige Situationen, eigenwilliges Personal. Lord Peter ist in seinem Element. Selten ist er so animiert, denn die Menschen hier sind Meister der Sprache und der Sprüche. Sayers legt ein rasantes Tempo vor, das sie bis zum Ende im furiosen Cricket-Match durchhält. Die Personen sind gut gezeichnet, wirken absolut lebendig. Gleichzeitig ist das Stück ein Roman über die englische Gesellschaft, über die Klasse der Gebildeten, der Betuchten und der ärmeren Schichten. Eine Parabel über die Verführbarkeit von Menschen, ihrer Sehnsucht, auch zu den Reichen und Schönen zu gehören, über das Leben von Kindern reicher Eltern, die sich mit Rauschgift, Alkohol oder exzessiven Orgien über Langeweile in ihrem Leben und der Sinnlosigkeit ihrer Existenz hinweg täuschen. Und über Menschen, die nicht durch eigene Schuld, aber durch falsche Entscheidungen in Situationen geraten, denen sie nicht gewachsen sind.
In einigen Passagen sinniert Lord Peter über Sinn und Zweck und Auswirkungen der Werbung. Werbung soll Menschen dazu bringen, etwas zu kaufen, was sie nicht brauchen, was ihnen nichts nützt, sie im Gegenzug dazu verführt, über ihre Möglichkeiten zu leben. Sehnsüchte werden geweckt, die in die Sucht nach mehr münden. Da liegt ein Vergleich mit der Wirkung von Rauschgift nahe.
Lord Peter ist in einigen Passagen noch einmal der Alleskönner und Tausendsassa. Doch spielt er diese Rolle mehr als dass er sie noch wäre. Er begegnet sozusagen seinem früheren Ich. Insgesamt ist er viel nachdenklicher und reifer gestaltet, reflektierter und als Persönlichkeit, die sich mit sich und ihrer Umwelt kritisch auseinandersetzt.
Die Übersetzung von Otto Bayer gefällt mir gerade in den Passagen in der Werbeagentur. Für die vielen coolen Sprüche muss ein Übersetzer eine Entsprechung finden. Das gelingt ihm sehr gut.
rororo TB - 1980 - Buch
1080
Schami, Rafik
Rafik Schami - Die Sehnsucht der Schwalbe
Erstveröffentlichung 2000 Carl Hanser Verlag
Rafik Schami - Die Sehnsucht der Schwalbe
Rafik Schami gehört zu Deutschlands meistgelesenen und erfolgreichsten Autoren. Geboren 1946 in Damaskus, Syrien. Er kam 1971 in die damalige Bundesrepublik Deutschland, studierte Chemie mit Promotionsabschluss. Sein Werk wurde in mittlerweile ca. 22 Sprachen übersetzt.
Ein syrischer Flüchtling auf der Suche nach Heimat
Lutfi, ein junger Syrer, lebt seit geraumer Zeit illegal in Deutschland. Er ist vor politischer Verfolgung in seinem Heimatland geflohen. Irgendwie schafft er es, sich durchzuschlagen. Doch mehrfach wird er in Deutschland aufgegriffen und abgeschoben. Und jedes Mal kehrt er mit falscher Identität zurück.
Wieder einmal abgeschoben ist er in Syrien zu einer Hochzeit eingeladen. Er trifft auf den jungen Barakat, dem er seine Geschichte erzählt: Zuerst die seiner Mutter; dann seine Kindheit und Jugend in einem Syrien, das immer von Gewalt und Umsturz betroffen ist; von den Schwierigkeiten als Christ in einer muslimischen Umwelt, die manchmal freundlich, manchmal gefährlich ist, von der ersten Liebe und ihrem Ende. Wie er aufgrund seiner politischen Einstellung in Gefahr gerät und ins Ausland fliehen muss. Und dann das Leben in Deutschland im Untergrund, seine Angst vor dem Polizisten Jens Schlender, der ihn immer wieder aufspürt und abschieben lässt. Aber Lutfi, der sich selbst als Schwalbe beschreibt, kommt jedes Mal zurück und findet hier Menschen, die ihm helfen. Er verliebt sich in Molly, die er auf einem Flohmarkt in Frankfurt kennenlernt, und möchte nun unbedingt in Deutschland, dem Land seiner Wahl bleiben. Ob das gelingt, sollte man selber lesen.
Das Buch kommt leicht und luftig (ein bisschen Lutfi) daher, es ist gut (und schön) zu lesen, die Sprache leichtfüßig und im Stil der „Geschichten aus tausend und einer Nacht“ geschrieben, manchmal ist es poetisch. Man denkt an Märchen, aber das, was Rafik Schami schreibt und wie er das tut, ist gleichzeitig sehr klar und überhaupt nicht beschönigend. Die Realität in Syrien wird genauso klar und zeitweise hart analysiert und geschildert wie seine Lebenssituation und die vieler anderer Flüchtlinge in Deutschland. Ein wichtiges Buch, wie ich finde, zu jeder Zeit aktuell. Sehr lesenswert.
Dtv - 2005 - Buch
1122
Schreiber, Daniel
Buch – Daniel Schreiber – Nüchtern – Über das Trinken und das Glück
Erschienen zuerst 2014 bei Hanser Berlin
Philosoph mit Hang zur Erfahrung
geboren 1977, Autor einer Biographie über Susan Sonntag: Geist und Glamour ( 2007) sowie von Essays wie: Nüchtern (2014), Zuhause (2017) und Allein (2021)
Nüchtern durchs Leben oder betrunken?
In seinem 2021 erschienenen Buch „Allein“ erzählt Daniel Schreiber u.a. von seiner Trunksucht, die sein Leben fast zerstört hätte. Mich hat „Allein“ sehr beeindruckt. Deshalb und weil ich das Thema wichtig finde habe ich mir später „Nüchtern“ gekauft
Persönliche und gesellschaftliche Ursachen für Alkoholismus
Warum trinken Menschen? Warum werden Menschen süchtig, andere nicht? Wie sind bestimmte Synapsen im Gehirn verknotet, verbunden, was triggert das Verlangen? „Stellen Sie sich vor, wie Sie ein Walnussbrot aufschneiden, einen provenzalischen Ziegenkäse aus dem Einschlagpapier nehmen, ein paar Muskattrauben dazulegen und sich einen kalifornischen Pinot Noir ins Glas gießen. Wie Sie das Glas zum Mund führen, das weiche Aroma einatmen, einen Schluck nehmen und kurz darauf spüren, wie jenes warme Gefühl der Entspannung durch Ihren Körper fließt. Wie Sie eine Zufriedenheit spüren, die sich ein bisschen wie Glück anfühlt.“ Das Zitat aus dem Essay liest sich wundervoll, ich möchte auch so etwas essen und trinken. Ich kenne das beschriebene Gefühl, den beschriebenen Geschmack.
Nur, Alkohol und ich – das ist eine eher unglückliche Liebe: Ich vertrage wenig, mir wird oft übel und zu allem bekomme ich schnell Kopfschmerzen oder sogar eine allergische Reaktion, meistens auf irgendwelche Inhaltsstoffe. Ich tröste mich damit, dass ich auf diese Weise nie abhängig werden kann. Aber was ist, wenn man keinerlei inneren Schutz hat, wenn keine Warnglocken einem die Ohren voll tönen? Wenn es nicht bei einem Glas oder zweien bleibt? Wenn man nicht mehr davon loskommt? Immer mehr und mehr trinkt? Wenn alles aus dem Ruder läuft?
Welche Rolle spielen Kindheit, Jugend, Familie, Umfeld? Was hat die Gesellschaft damit zu tun? Daniel Schreiber zeigt auf, wie sehr unsere Gesellschaft auf Toleranz gegenüber Alkohol trainiert ist und wie negativ man dem alkoholkranken Menschen begegnet. Überall wird man zum Trinken animiert. Mir fällt dazu das Lied ein: „Drink doch eene met, stell dich nit esu an.“ Dieses Lied, eine Hymne auf die Freundschaft, das Miteinander im gemeinsamen Trinken – so positiv gemeint, kann auch anders verstanden werden. Da wird nicht akzeptiert, dass jemand nicht trinken möchte, egal, aus welchem Grund. Er wird zum Spielverderber, zum Weichling, der keinen Alkohol verträgt oder kein „richtiger“ Mann ist. Die Frau wird zur Zicke, zur Mimose. Beide werden zu Außenseitern. Erfolg und Trinken gehören in unserer Gesellschaft zusammen: Ein Erfolg „muss“ gefeiert werden – natürlich mit Alkohol. Nichttrinker als Spaßbremsen, die es nicht „richtig krachen“ lassen können – es gibt viele solcher Sprüche. Es wird dabei aber immer vorausgesetzt, dass die Spielregeln eingehalten werden. Man muss aufhören können. Aber viele hören nicht auf, laufen lange mehr oder weniger unerkannt als stille Alkoholiker mit, bis irgendwann einmal alles zusammenbricht. Und dann?
Nüchtern – spannend, intensiv und sehr ehrlich
Von Anfang an fand ich das Buch spannend, intensiv und beeindruckend ehrlich. Ich habe viel über Alkoholismus gelernt, über die unterschiedlichen Formen und Abläufe, was passiert, wenn Menschen sich vielleicht zum ersten Mal bewusstwerden, dass sie abhängig sind. Wie reagieren sie auf diese Erkenntnis? Was muss geschehen, damit sie das überhaupt zur Kenntnis nehmen? Wie viel Verdrängungsleistung verlangt diese Krankheit? Was führt dazu? Wie kommt man davon los? Was ist mit Prozessen biochemischer Art im Körper? Was passiert mit und im so genannten Körpergedächtnis? Was hilft bei dem Versuch, abstinent zu werden? Und wenn man geschafft hat, nüchtern zu werden, wie bleibt man in diesem Zustand? Daniel Schreiber belehrt nicht, er hat die Erfahrung gemacht und möchte sie weitergeben, mit seinem Buch anderen helfen, sich zu besinnen und den Mut für eine Umkehr zu bekommen, die Scham und das Schuldgefühl zu überwinden und sich sein Leben jeden Tag neu zurückzuholen.
Lebensnah, realistisch und hilfreich
Ein Buch für Betroffene und für Menschen, die sich kundig machen und die verstehen wollen, die Krankheit und die Kranken. Und darüber hinaus lassen sich viele Erkenntnisse auf andere Süchte übertragen. Es ist es überhaupt lesenswert, auch in Bezug auf Leben überhaupt.
Suhrkamp, Taschenbuch, 8. Auflage 2021 - 2021 - Buch
1123
Schreiber, Daniel
Buch – Daniel Schreiber – Zuhause – Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben möchten
Erschienen zuerst bei Hanser Berlin, Carl Hanser Verlag München 2017
Lebenserfahrener Philosoph
geboren 1977, Autor einer Biographie über Susan Sonntag: Geist und Glamour ( 2007) sowie von Essays wie: Nüchtern (2014), Zuhause (2017) und Allein (2021)
Zuhause – über eine Sehnsucht und eine lebenslange Suche
Was heißt das eigentlich „Zuhause“? Ist das ein Ort, ein Zustand? Was, wenn das Zuhause verlorengeht, sich als Illusion herausstellt, als Ort lebenslanger verklärender Nostalgie? Wenn ja, bleibt es ein lebenslanger Verlust? Wo und wie bin ich Zuhause?
Daniel Schreiber geht diesen Fragen auf seine bewährte Art auf den Grund. Er setzt bei sich und seinen Erfahrungen an, macht Ausflüge in seine Lebensgeschichte, zuerst die jüngere und dann aber die frühere. Und da erklärt sich ihm und seinen Lesern und Leserinnen doch einiges, einmal in Bezug auf ihn, aber auch auf jeden und jede selbst. Denn die Fragen an einen selbst liegen auf der Hand: Was ist für mich Zuhause? War oder bin ich wo Zuhause?
Wie immer schafft es Daniel Schreiber, dass, ausgehend von ihm und seinem Leben, ich anfange, über mich und mein Leben nachzudenken. Das ist spannend, macht nachdenklich und ich fange an, in meinen Erinnerungen zu kramen und ihnen nachzugehen.
Nie belehrend, nie beschönigend, nicht larmoyant, sondern ehrlich und authentisch
Es will schon einiges heißen, wenn ein Autor von sich, seinem Leben, seinen Träumen, Abstürzen, Misserfolgen und Fehlern erzählt, ich ihm gerne zuhöre und denke: Danke. Gut gemacht. Viel gelernt, auch über micht selbst. Gerne immer wieder.
SuhrkampTaschenbuch 8. Auflage - 2021 - Buch
1114
Schreiber, Daniel
Daniel Schreiber – Allein
Philosoph mit Hang zur Erfahrung
geboren 1977, Autor einer Biographie über Susan Sonntag: Geist und Glamour ( 2007) sowie von Essays wie: Nüchtern (2014) und Zuhause (2017)
Familie, Freundschaft, Partnerschaft - und was dann?
Was ist, wenn - wie in Corona-Zeiten - alles wegbricht? Wenn Lebensziele sich auflösen, Optionen keine mehr sind? Wer bin ich bzw., was bin ich wert als einfach ich selbst? Ohne Familie, ohne Freunde, ohne PartnerIn? Ich bin allein. Und was dann? Wie steht es um meinen Stellenwert in einer Gesellschaft, die nach dem Motto "Mein Haus, mein Auto, mein Status" lebt?
Daniel Schreiber hat ein offenes, mutiges Buch über Leben mit und ohne Familie, mit und ohne PartnerIn veröffentlicht. Über den Wert und Unwert der Freundschaft, von Beziehungen. Ein Buch über Illusionen vom Leben, über Träume und Realitäten. Daniel Schreiber hat den Mut, Sätze wie „Ich bin allein, aber nicht einsam“ zu hinterfragen und die Selbstlügen und Illusionen aufzudecken, die sich dahinter verbergen.
Denn Alleinsein und -leben ruft Unbehagen hervor bei denen, die es nicht sind oder glauben, es nicht zu sein. Die Angst, allein zu sein und als bedürftig eingeschätzt zu werden, heißt ja auch u.U. in Beziehungen zu verharren, die eher zerstörerisch sind. Und es heißt, einer existentiellen Einsamkeit entfliehen zu wollen, der niemand letztlich entfliehen kann. „Der Mensch muss eine innere Einsamkeit ergreifen“ sagt Meister Eckhart, sagen MystikerInnen, PhilosophInnen. Sie haben Recht, doch diese Einsicht liegt nicht jedem. Aber Leben ist nichts für Feiglinge. Also sich dem Alleinsein und der Einsamkeit stellen. Das tut Daniel Schreiber, einfühlsam, authentisch und gar nicht larmoyant.
Nachdenken lohnt sich doch
Ich fand das Buch, obwohl durchaus philosophisch, einfach spannend zu lesen, musste oft nicken. Genau, stimmt. Der Mann spricht mir aus dem Herzen. Und ich habe viele Anregungen bekommen. Seine Aufrichtigkeit und sein Mut beeindrucken mich.
Verlag Hanser - 2021 - Buch
1113
Schubert, Helga
Helga Schubert – Vom Aufstehen
Helga Schubert, die Widerständige
1940 geboren in Berlin, aufgewachsen in der DDR, Studiim der Psychotherapie, Schriftstellerin, zahlreiche Buchveröffentlichungen, Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches. Bereitete in dieser Fuktion die ersten freien Wahlen mit vor. Befürwortete den Beitritt der DDR zur BRD, was ihr nicht nur Freunde machte.
„Mein idealer Ort ist eine Erinnerung.“
So beginnt Helga Schubert ihr Buch. Ein Leben in Geschichten, kurz, knapp, knorrig, klar – nordöstlich herb. Und sehr weise, wahrhaftig und wundersam liebenswert. Das Aufwachsen als Kind des Krieges in der DDR, die schwierige Beziehung zur Mutter, der Widerstand gegen das DDR-Regime, die Erfahrung des Ausgegrenztseins wegen ihrer politischen und menschlichen Haltung sowie das Leben im vereinten Deutschland schildert sie unprätentiös, ruhig, manchmal mit leisem Humor.
Der Ingeborg-Bachmann-Preis wurde ihr in jüngster Zeit verliehen. Verdient. Den durfte sie annehmen, aber zu Zeiten des DDR-Regimes waren ihr solche Meriten aus dem Ausland verboten. Über 80 Jahre ist sie. Ein ganzes Leben also in einem kleinen Buch, das es in sich hat. Wie das bei Leben so ist…
Vom Aufstehen
Scheitern, ob vor sich selbst oder andern, Mut zu haben, anders zu sein, widerständig zu sein wo nötig - das zeigt Helga Schubert. Chapeau. Ein Buch, das sich lohnt, immer wieder hervorzuholen und neu zu lesen.
dtv - - Buch
1029
Seethaler, Robert
Ein ganzes Leben
Österreichischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Schauspieler, geb. 1966 - Taschenbuch
Ein ganzes Leben?
Was ist der Wert eines Lebens? Was ist das: Glück? Ab wann sind wir glücklich, leben ein gutes, lebenswertes Leben? Ab wann ist es das Gegenteil? Andreas Egger, der Protagonist des Buches, ist für die meisten in seiner Umgebung ein armer Kerl, unehelich geboren, als Kind unterdrückt, misshandelt, allein gelassen und benutzt. Als Erwachsener erlebt er ein kurzes Glück, dann wird sein Leben wieder schwer und hart, so, wie es immer war. Wie ist am Ende die Summe seines Lebens? Und was heißt das: Ein ganzes Leben?
Ein kleines, großes Buch, manchmal fast ein wenig hinterhältig. Denn am Ende steht die Frage: Und wie hältst du es mit deinem Leben?
Goldmann-Verlag - 2016 - Buch
1065
Shafak, Elif
Der Bastard von Istanbul
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller
Zur Person
Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den meist gelesenen Schriftstellerinnen der Türkei. Sie schreibt auf Englisch und Türkisch.
Inhalt
Das Leben zweier Familien gerät durcheinander, als sich die junge Asya aus der Türkei und die gleichaltrige Armanousch aus den USA begegnen und sich die gemeinsame Geschichte und das, was sie trennt, nicht länger verdrängen lassen.
Die Familie Kazanci
Asya Kazanci wird 19 Jahre alt, lebt in Istanbul mit ihrer Mutter, die sie Tante Zeliha nennt, den drei Schwestern ihrer Mutter sowie zwei Großmüttern in einem Konak (einem vergleichsweise großen Haus). Sie ist unehelich geboren, deshalb der Titel. Sie hadert altersgemäß mit Gott und der Welt sowie mit ihrer Familie und ihrer Mutter. Wohl fühlt sie sich nur im Café Kundera, wo sie sich mit Freunden trifft, die allerdings samt und sonders um einiges älter sind als sie selbst. Warum das Café so heißt ist genauso skurril wie der Kreis der Menschen mit denen sie zusammensitzt. Ihre Familie ist nicht weniger skurril, aber irgendwie sind ihre Mitglieder doch auch liebenswert. Tante Zeliha hat ihre eigene Geschichte, die im Laufe des Romans besser verständlich wird, ist unglaublich schön und immer noch rebellisch wie in ihrer Jugend. Tante Banu ist eine muslimische Mystikerin, die sich als Wahrsagerin betätigt und ständig mit zwei Dschinnen auf ihren Schultern zu tun hat, die außer ihr niemand sieht. Aber gerade diese haben es in sich, wie sich im Fortgang der Geschichte erweist. Tante Feride wiederum wechselt mit ihren jeweiligen seelischen Erkrankungen Haarfarbe und Frisur. Ansonsten ist sie eher friedlich. Tante Cevriye war einmal unglücklich verheiratet, ihr Mann starb auf mehr kuriose als tragische Weise. Nun arbeitet sie als Geschichtslehrerin. Und da sind noch Petite-Ma, die sehr liebenswert, aber zunehmend dement ist und Oma Gülsüm, Zelihas Mutter, vom Leben enttäuscht, hart und oft ungerecht.
Männer gibt es bei den Kazancis nicht mehr, sie starben alle früh. Sie starben so häufig, dass Mustafa, der einzige Sohn und Enkel in die USA geschickt wurde, damit ihn nicht das gleiche Schicksal ereilt.
Die Familie Stamboulian-Tchakhmakhchian
Armanousch ist auch 19 Jahre alt, lebt in Arizona bei ihrer Mutter oder in New York bei ihrem Vater bzw. bei seiner Familie. Ihre Familie kam durch die Ermordung Tausender Armenier in der Türkei im ersten Weltkrieg in die USA. Bis in die Gegenwart ist das Leben von dieser Erfahrung geprägt. Obwohl beide Familien nicht nur räumlich getrennt scheinen, ähnelt sich doch ihr Familienleben. Beide Familien lieben, streiten sich unaufhörlich, bemuttern alle Mitglieder, bevormunden dabei alles und jeden. Und wollen immer alles vom anderen wissen. Und haben doch immer wieder kleine und große Geheimnisse voreinander.
Armanousch liebt ihre Familien, aber am wohlsten fühlt sie sich im Café Constantinopolis. Das ist ein Chatroom, wo sie ihre Freunde trifft, die allesamt nicht unter ihrem wirklichen Namen schreiben. Hin und her gerissen zwischen ihrer Mutter und deren Ehemann Mustafa (dem ins Exil zum Überleben geschickten Sohn der Familie Kazanci) und ihrer armenischen Familie, beginnt sie, über ihr Armenisch-Sein und über die Beziehung der Armenier zur Türkei und Türken nachzudenken. Und so kommt sie auf die Idee, die Familie ihres Stiefvaters zu besuchen und selbst herauszufinden, wer sie ist und wie sie mit der Vergangenheit umgehen soll. Dabei kann sie sich nicht genug wundern über die außerordentliche Gastfreundschaft der Familie einerseits und die ebenso außerordentliche Unwissenheit der Türken andererseits, was die nähere Vergangenheit anlangt.
Fazit: Das Buch ist leicht geschrieben, voller Ironie und an vielen Stellen sehr witzig, die Charaktere schön gezeichnet und sehr lebendig. Man kann jede der Frauen verstehen, bemitleidet von Zeit zu Zeit die Männer, denkt sich, Familie ist gut und schön, aber manchmal ein bisschen zu nah. Bei all der Fürsorge und der schweren Vergangenheit der Älteren haben es die Jungen schwer, zu sich und einem einigermaßen eigenen Leben zu kommen. Und all die Familiengeheimnisse, vor allem die schweren, belasten das Miteinander.
Aber das alles tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch, da die Autorin unsentimental mit ihrem Thema umgeht und nie auf die Tränendrüse drückt. Eine Reihe von Passagen sind einfach so hinreißend treffend und witzig, dass man sie laut lesen müsste. Und man lernt viel über die Türkei der Gegenwart und Vergangenheit sowie über die Geschichte der Armenier. Und darüber, wie viel an gemeinsamer Geschichte und Kultur sie haben, bei allem Leid und aller Ungerechtigkeit die den Armeniern widerfahren ist. Elif Shafak wurde in der Türkei vor Gericht gebracht, weil im Roman eine ihrer Figuren (also eine fiktive Person) vom Völkermord an den Armeniern spricht. Für die Ankläger war das eine Beleidigung des Türkentums. Elif Shafak wurde nach einigem Hin und Her unter Anteilnahme der Weltöffentlichkeit 2006 frei gesprochen.
Verlag Kein & Aber - 2015 - Buch
1117
Shafak, Elif
Elif Shafak - Das Flüstern der Feigenbäume
Michaela Grabinger
Poetisch, politisch, mutig
Elif Shafak ist eine der wichtigsten Gegenwartsautorinnen, britisch-türkische Schriftstellerin, lebt in London. Sie leiht ihre Stimme den Ausgegrenzten, Ängstlichen, Migranten, Suchenden und Opfern politischer und gesellschaftlicher Verfolgung.Sie setzt sich darüber hinaus sehr für Frauenrechte ein.
Wenn Bäume sprechen könnten
Im Original lautet der Buchtitel „Iland oft he missing trees“. Der Titel scheint mir treffender, obwohl es durchaus um Feigenbäume und dabei ganz besonders um einen bestimmten geht. Er erzählt die Geschichte von Defne und Kostas, einem Liebespaar, das in jungen Jahren getrennt wird und erst viele Jahre später wieder zusammenkommt. Sie ist türkische Muslima, er griechischer Christ. Sie leben auf Zypern in den 1970er Jahren und später in London.
Der Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen griechischen und türkischen Nationalisten in den 70er Jahren führt zur Teilung der Insel, die bis heute andauert. Sie bringt Unglück über die Menschen, sät Feindschaft zwischen den Bevölkerungsgruppen, trägt aber auch zu Verwüstung und Zerstörung der Kultur, der Landschaft, der Natur bei. Was das bei den Menschen anrichtet und wie sich das alles auf die Nachfahren auswirkt beschreibt Elif Shafak in ihrem neuesten Roman, der auf verschiedenen Zeitebenen angesiedelt ist: London der Gegenwart, Zypern der 70er und 90er Jahre.
Die Tochter von Defne und Kostas, Ada, soll unbelastet von der traurigen Vergangenheit leben und als Britin aufwachsen. Aber so einfach ist das nicht. Denn, so Elif Shafak, die traumatischen Erfahrungen der Älteren leben in den Jungen weiter. Schweigen, wie das Adas Eltern tun, ist keine Lösung. Das zeigt sich bei ihrer Tochter, in der sich die Trauer ihrer Eltern ansammelt, und die eines Tages in der Schule aus ihr herausbricht und Ada minutenlang schreien lässt.
Das einzige, was hilft, ist: Sich der Vergangenheit stellen und miteinander reden. Schweigen zementiert die Probleme. Die Jungen müssen von den Älteren erfahren, was und wie sie das alles erlebt haben. Nur so ist Verstehen möglich. Reden, Zuhören und Verstehen.
Hört einander zu
Elif Shafak ist eine Autorin, die sich mit gesellschaftlichen und politischen Zuständen und ihren Auswirkungen auf Menschen und Natur (z.B. Klimawandel) auseinandersetzt. Sie wählt oft aktuelle Themen und geht zurück in die Vergangenheit, um zu zeigen, welche Auswirkungen lange zurückliegende Ereignisse auf die jetzt Lebenden haben. „Hört einander zu“ ist der Titel eines kleinen, soeben erschienenen Essays. Zuhören kann nicht alle Probleme lösen, aber helfen, gemeinsam eine Lösung zu finden. So hört Elif Shafak ihren Figuren und Charakteren zu. Und die LeserInnen mit ihr.
Wenn ich ein Wort nennen sollte, das ihren Schreibstil kennzeichnet, dann wäre es wohl Zärtlichkeit. Und das obwohll sie nie schönfärbt oder beschwichtigt, im Gegenteil: Sie benennt klar Ross und Reiter und steckt dafür auch Kritik ein. Aber sie hört ihren Figuren und Charakteren zu. Und das ist etwas Besonderes. Sie schreibt nicht nur darüber, sondern handelt auch so.
Verlag Kein und Aber - 2021 - Buch
1089
Stanšic, Saša
Sasa Stanisic - Herkunft
Saša Stanišic - Herkunft
Woher wir kommen, wohin wir gehen, was bleibt - und was alles dazwischen liegt
Saša Stanišic, geboren 1978 in Višegrad im damaligen Jugoslawien, heute Bosnien, kam als 14jähriger (also 1992) nach Deutschland. Mit seinen Eltern war er vor dem Bürgerkrieg und seinen Gräueln geflohen. In Deutschland ging er zur Schule, wiewohl er zunächst kein Wort Deutsch sprach. Dennoch lernte er die Sprache sehr schnell und machte 1997 das Abitur. Danach studierte er in Heidelberg Deutsch als Fremdsprache und Slawistik. Seine Eltern wanderten 1998 in die USA aus, weil sie hier keine Aufenthaltsgenehmigung bekamen, ihr Sohn konnte in Deutschland bleiben. Schon während seiner Schulzeit hatte er geschrieben und während des Studiums entstanden immer mehr literarische Texte. 2004/2005 nahm er ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig auf. Seine Arbeiten fanden Aufmerksamkeit, die ersten Preise stellten sich ein. Sein Erstlingswerk „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ (2006 erschienen) war überaus erfolgreich und wurde in 30 Sprachen übersetzt. Mit diesem Roman heimste er zahlreiche Preise ein. Weitere Romane folgten: 2014 – Vor dem Fest, 2016 – Fallensteller, 2019 – Herkunft. Alle Romane waren und sind sehr erfolgreich, bekamen Preise. Für „Herkunft“ bekam er 2019 den Deutschen Buchpreis.
Herkunft - 2019
In diesem Buch erzählt Saša Stanišic von seiner Herkunft, seiner Kindheit in Višegrad, seiner bosnischen Mutter, dem serbischen Vater und der Großmutter, die er so sehr liebt. Er erzählt von Familienfesten, verrückten Zeitgenossen, dem leisen, aber unaufhaltsamen Verfall der Gesellschaft, des Staates, von zunehmendem Fanatismus, von Hasstiraden aller gegen alle. Višegrad liegt im Osten Bosniens, nahe der Grenze zu Serbien. Dort spürte man die Veränderungen sehr deutlich. Dann brach der Krieg über die Menschen dort herein und die Familie konnte nicht mehr bleiben. Die Eltern entschließen sich, erst Zuflucht in Belgrad bei Verwandten zu suchen. Als es dort auch unsicherer wird, fliehen Mutter und Sohn nach Deutschland. Der Vater kehrt zunächst nach Bosnien zurück wegen der dort zurück gebliebenen Großmutter. Die nächste Station für Mutter und Sohn ist Heidelberg. Ein Zufall, weil dort ein Onkel des Autors lebt. Der Vater kommt später nach Deutschland. Aus dem zunächst auf Wochen und Monate angelegten Aufenthalt wird ein Dauerzustand, weil an eine Rückkehr nicht zu denken ist. Die Familie muss sich einrichten, was vor allem dem Sohn zunehmend gelingt.
Wie das alles gekommen ist, was geschah, was verloren ging und was dafür neu gewonnen wurde – eine Heimat wurde genommen, eine andere aufgebaut, ein altes, dennoch schönes Leben verlassen, das Abenteuer eines neuen begonnen mit allen Höhen und Tiefen, Hoffnungen und Enttäuschungen – das erzählt Saša Stanišic überaus intensiv, wehmütig, traurig, aber auch mit Humor, Witz und mit viel Gespür für das Absurde des Geschehens in seinem Herkunftsland. Schreibend erinnert er sich, holt sich zurück, was verloren, vergessen schien. Und während er sich erinnert, beginnt seine Großmutter zu vergessen, verliert ihre Erinnerungen. Also holt der Enkel sich und ihr alles zurück. Und wer will entscheiden, was tatsächliches Geschehen ist und was in der Phantasie erinnert wird? Erinnern ist Vergegenwärtigung und damit wohl auch Neuerschaffen. Und dann: Welches Ende hätten Sie gern? Saša Stanišic beginnt ein kleines Spiel mit den eigenen Sehnsüchten und denen seiner Leser und Leserinnen. Sie entscheiden, wie das Buch endet. Ob es endet.
Literatur, wie sie sein soll
Ich hatte gehört, dass er den Deutschen Buchpreis für „Herkunft“ bekommen hatte. Eine alte Dame in einer Buchhandlung hatte es in der Hand, schlug es auf, schaute hinein, las kurz und gab es mir mit den Worten: „Das ist nichts für mich!“ Ich wurde neugierig, schaute selbst auf die Stelle, die ihr missfallen hatte, und musste lachen. Eine WhatsApp-Nachricht konnte ich da lesen. Es ging um seine Großmutter. Mir gefiel die Stelle außerordentlich. Ich fand das absolut witzig, aber auch berührend. „Das Buch muss ich haben!“ Und so steht es bei mir im Bücherschrank. Ich habe es sofort gelesen und das wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Saša Stanišic schreibt brillant, phantasievoll und sein Umgang mit der deutschen Sprache ist unglaublich kreativ. Das macht Spaß, berührt und macht neugierig, mehr von diesem Schriftsteller zu erfahren. So viel Verstand, so viel Witz, so viel Phantasie. Ans Herz greift es auch, aber ganz ohne Sentimentalität. Und alle diese Vorzüge auch noch auf Deutsch, bei deutscher Literatur. O Mann, geht doch.
Luchterhand - 2019 - Buch
1090
Stanišic , Saša
Sasa Stanisic - Wie der Soldat das Grammofon repariert
Saša Stanišic - Wie der Soldat das Grammofon repariert
Ein Erstlingswerk, dem man das nicht anmerkt
zur Biographie s. Rezension zu Saša Stanišics Buch "Herkunft"
Wie aus Frieden Krieg wird
Viele Jahre haben in Višegrad, einer Stadt an der Drina im Osten Jugoslawiens, Christen und Muslime, Bosnier und Serben friedlich miteinander gelebt. Aber nun machen sich Nationalismus und Hass bemerkbar und breit, bis der Krieg mit seiner Gewalt und seinen Exzessen über die Menschen hereinbricht.
Aleksandar, 14 Jahre alt, versteht nicht so recht, was da geschieht. Eben spielte er noch mit seinen Kameraden aus allen Schichten der Bevölkerung. Eben noch erzählte er von seinen beiden Großvätern, den Großmüttern, von den vielen Festen und den verrückten Verwandten und Nachbarn (wenn auch liebenswert verrückt), eben noch war die Mutter eine ganz normale Jugoslawin, nun ist sie Bosnierin und gefährdet. Eben noch ging Aleksandar zur Schule und sinnierte über Tito, seinen Tod, die marxistische Lehre und andere wichtige Themen nach – wie Fußball beispielsweise.
Aber nun ist alles anders. Das Haus ist besetzt von Soldaten, die Menschen müssen ihnen Platz machen in ihren Häusern, sie selbst suchen in den Kellern der Häuser Schutz vor dem näher rückenden Artilleriefeuer. Und als die Soldaten gehen, folgen ihnen Freischärler. Und die sind viel schlimmer als die Soldaten. Aleksandar und sein Freund Edin begreifen gar nicht, was passiert. Und so sehen sie diese Zeit zunächst noch als großes Abenteuer. Das versetzt ihre Eltern in Angst, denn die Jungen können absolut nicht übersehen, was ihre Unvorsichtigkeit und Abenteuerlust, aber mehr noch ihr Nichtverstehen bedeuten kann. Immer schwieriger und gefährlicher wird das Leben in der Stadt. Also beschließen Aleksandras Eltern, zunächst nach Serbien, nach Belgrad zu fliehen. Dort – bei Verwandten sind sie in relativer Sicherheit, obwohl dies für die Mutter als Bosnierin nicht ganz gilt. Später fliehen sie aus Belgrad über Ungarn nach Deutschland
Aleksandar lebt sich hier ein. Aber er kann seine kleine Freundin Asija nicht vergessen. Was ist aus ihr geworden? Der erwachsene Aleksandar versucht, sie zu finden. Asija ist Arabisch und bedeutet Frieden. Als Erwachsener kehrt Aleksandar nach Bosnien zurück. Alles ist fremd, die Spuren des Krieges sind überall zu sehen. Die Menschen, nach außen teilweise gut gestellt, scheinen nach innen immer noch hart und die Schrecken des Erlebten leben als Trauma in ihnen weiter. Hass ist allgegenwärtig. Die Erfahrung der Realität macht Aleksandar zu schaffen. Nichts ist mehr, wie es war.
Wie nähert man sich seinen Traumata?
Vorsichtig, würde ich sagen, sehr vorsichtig, ausweichend, das Unerhörte umkreisend, sich langsam an das Eigentliche, das Unaussprechliche, nicht zu Verstehende, den Schrecken und den Terror herantastend. Und so beginnt das Buch mit dem Guten und Schönen von Aleksandars Kindheit, ja fast idyllisch. Denn es gilt, sich zu wappnen, für das, was im Hintergrund lauert und bearbeitet werden will, wenn man sich schon erinnert bzw. erinnern muss. Wenn man etwas retten, etwas bewahren will. Und das ist Aleksandars Kindheitsparadies mit einer Familie, die das Kind liebt, mit Freunden, mit denen man die Umwelt erkunden kann. Alles ist Spiel, das Leben gut. So kann es weitergehen. Aber dann bricht der Krieg über die Menschen herein. Und alles wird anders. Der Ton ändert sich, langsam, so, wie die Menschen nicht verstehen, was geschieht, aber damit leben müssen.
Wie man sich mit Phantasie und Erzählen dem Trauma stellt
Saša Stanišic erzählt diese Geschichten mit überbordender Phantasie, Freude am Erzählen, am Fabulieren, dass es mitreißt. Man fühlt immer mit den Protagonisten und dem, was ihnen geschieht. Das ganze Buch durchzieht diese Suche nach dem Verlorenen, nach dem Paradies der Kindheit, nach den Spuren des früheren Lebens. Erinnerung ist der Schlüssel und sich erinnernd das Verlorene wieder zurückholen, mit Hilfe der Phantasie die Gräben zu überbrücken oder es zumindest zu versuchen. Und im Schreiben des Gesehenen – des Realen und des Phantasierten – eine neue Heimat zu finden. Erzählen als Mittel, eine neue Heimat zu finden, die alte nicht zu vergessen, sondern zu bewahren. Dies alles gelingt Saša Stanišic. Er malt sein Bild mit Worten und allen Farben - mit Sepiafarben und schrillen, grellen Tönen - Schönes, Gutes und Schlimmes, Schlechtes sind alles mit auf dem Bild. So ist etwas sehr Kostbares entstanden, bewegend und berührend. Und was es mit dem Titel auf sich hat: Nun, wie repariert ein Soldat im Krieg schon ein Grammofon?
BtB - 2008 - Buch
1129
Stanisic, Sasa
Buch - Sasa Stanisic – Wolf
Illustrationen: Regina Kehn
Er schreibt Bücher für alle Lebensalter: Kinder, Jugendliche, Erwachsene - er kann es einfach. Klug, witzig und menschenfreundlich.
Saša Stanišic wurde 1978 in Bosnien geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Wer mehr zu ihm wissen will: In meinen Rezensionen zu „Herkunft“ und „Wie der Soldat das Grammophon repariert“ habe ich einiges dazu geschrieben. Neben vielen anderen Preisen erhielt er 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse für „Vor dem Fest“ und 2019 den Deutschen Buchpreis für „Herkunft“. Seine Bücher sind mittlerweile in vielen Sprachen erschienen.
Buch - Saša Stanišic – Wolf
„Wolf“ ist eigentlich ein Kinderbuch, aber eines von der Sorte, die auch Erwachsenen etwas zu sagen haben bzw. ihnen gefallen können. Zum einen, weil sie an die eigene Jugend erinnern, zum andern, weil sie einfach gut sind. „Wolf“ ist so ein Buch.
Kemi, Sohn einer alleinerziehenden Mutter, muss in ein Ferienlager. So hat es seine Mutter bestimmt. Alle Versuche, sie umzustimmen, misslingen. Sie braucht einfach eine Auszeit, einmal tun und lassen können, was sie möchte. So sehr sie Kemi liebt – nun braucht und will auch sie Ferien.
Also fährt Kemi mit anderen Kindern in das Lager im Wald. Wie befürchtet trifft er auf eine Reihe von Klassenkameraden und auf die gefürchtete Gang einiger seiner Mitschüler. Das war wohl auch der geheime Grund der Ablehnung. Er kann ihnen nicht ausweichen, versucht es doch, begegnet Jörg, der ein absoluter Außenseiter ist und von allen gehänselt wird.
So lustig Kemi einerseits beschreibt, wie er mit der Situation umgeht, so bedrückend ist doch, wie schwierig es für ihn ist, sich einerseits selbst zu schützen vor der Gang und andererseits mit Jörg zu fühlen und ihm zu helfen. Zwischen der Angst um sich selbst und dem Wunsch, nicht mitzumachen und zu Jörg zu stehen hin und her gerissen, gelingt es Kemi nach und nach, einen eigenen Weg aus der bedrängenden Situation zu finden.
Ein überaus lesenswertes, kluges Jugendbuch
Ein überaus lesenswertes, kluges Jugendbuch (ab ungefähr 10-11 Jahren). „Wolf“ besticht durch die sensible, mitfühlende Beschreibung der Ängste und Befürchtungen Kemis, seiner Lebenswelt unter Berücksichtigung des Alters des Jungen. Kemi ist noch jung, er kennt noch nicht seine Stärken und Schwächen. Und dazu muss er lernen, dass nicht nur Jörg anders ist, sondern er selbst auch. Was das mit ihm und seiner Umwelt macht, beschreibt Saša Stanišic meisterhaft und mit dem eigenen Witz (Wortwitz) und Humor.
In seinem Erzählband „Fallensteller“ verwendet Saša Stanišic dieses Thema schon einmal. Aus dieser Geschichte hat er „Wolf“ dann entwickelt. Schon die Erzählung „Im Ferienlager im Wald“ gefiel mir ausnehmend gut. Das Buch ist eine großartige Umsetzung des Themas aus dem Erzählband von 2016. Und die schönen Wortspiele runden das Lesevergnügen ab.
Carlsen - 2023 - Buch
1110
Stanisic, Sasa
Sasa Stanisic – Vor dem Fest
Taschenbuch
Saša Stanišic - Vor dem Fest
Saša Stanišic wurde 1978 in Bosnien geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Wer mehr zu ihm wissen will: In meinen Rezensionen zu „Herkunft“ und „Wie der Soldat das Grammophon repariert“ habe ich einiges dazu geschrieben. Neben vielen anderen Preisen erhielt er 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse für „Vor dem Fest“ und 2019 den Deutschen Buchpreis für „Herkunft“. Seine Bücher sind mittlerweile in vielen Sprachen erschienen.
Ein Dorf namens Fürstenfelde in der Uckermark, Brandenburg
Was macht ein Dorf zu einem Dorf? Was braucht es dazu? Landschaft, Häuser, Menschen natürlich, Frauen, Männer, Kinder, Jugendliche. Tiere, domestizierte und freie, beispielsweise ein Fuchs bzw. eine Füchsin mit hungrigem Nachwuchs. Bauern, die die Füchsin nicht gerne in ihrem Hühnerstall sehen. Eine Kirche mit Turm und Glocken, einen Glöckner, der sie läutet. Evtl. noch ein Lehrling – die Tradition muss weitergegeben werden. Traditionen sind wichtig, Feste z.B., Geschichten aus der Vergangenheit, die zu Mythen wurden, die weitererzählt werden. Deshalb gehört ein Museum ins Dorf, um das alles zu sammeln. Schön wäre noch ein Fluss oder besser ein See mit kleinen Inseln darin. Ein See mit Boot. Dann braucht es aber auch einen Fährmann. Der muss ja die Leute fahren, überfahren, wohin auch immer. Ein Charon wird nun mal gebraucht. Ja, dann fehlt noch eine junge, hübsche Frau. Anna eben.
Fürstenfelde hat dies alles – gehabt.
In der Vergangenheit war das alles noch da, so erzählen es die Mythen des Dorfes. In der Vergangenheit gab es eine Zukunft. In der Gegenwart allerdings wird es schwierig: Der Fährmann ist tot, weshalb und wie er gestorben ist, weiß niemand. Die Glocken sind verschwunden, keiner weiß warum und wohin. Glöckner und Lehrling haben ein Problem. Die Museumswärterin, Frau Schwermuth, macht ihrem Namen alle Ehre, Frau Kranz, die Malerin, malt gerne nachts, ist aber leider nachtblind. Lada ist kein Auto, sondern ein Raubein, das gerne Autos im See versenkt. Herr Schramm, einstmals - vor der Wende – NVA-Oberst, sucht eher nach Gründen gegen das Leben als dafür. Ullis Garage wiederum ist für alle geöffnet. Er hat für die Gescheiterten, für die Unglücksgestalten des Dorfes und der angrenzenden Plattenbauten einen Raum geschaffen, wo sie ihre Wunden lecken können. Hier darf jeder machen, was er will. Solange Ulli nichts dagegen hat. Gelebte Demokratur. Und Anna kümmert sich nicht darum, was mit ihr geschehen soll, auf dem Fest. Dabei dürfte es insbesondere sie interessieren.
Die Füchsin ist derweil hungrig, ihr Nachwuchs noch viel mehr. Und die Hühner - vor allem ihre Eier - sind in einem Stall, so nah und doch so fern. Wölfe kommen auch wieder. Dafür sorgt Lada. Als Tattoo hat er sie schon. Und nicht nur er.
Es ist Nacht, dunkle Nacht, die Nacht vor dem großen Fest. Die Geister, gute und böse, entschlüpfen den Gräbern und Büchern, das Dorfarchiv ist geöffnet. Wer weiß, wer oder was da entweicht. Gestalten aus alten Geschichten und Mythen wissen: Diese Nacht ist ihre Chance.
Wie man ein Dorf erschafft - ein Zauberer bei der Arbeit
Saša Stanišic, für den Heimat nicht nur ein Wort oder lediglich ein Ort ist, erzählt in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk (2014) Folgendes: Er hatte sich ein Dorf erschaffen, ein Dorf und eine Heimat. Ein Phantasiedorf. Er bevölkerte es mit allem, was dazu gehört (s.o.). Und als er mit seiner Phantasie einigermaßen vorangekommen war, erzählte er einer Freundin von seinem Projekt. Ihre Antwort (sinngemäß): „Du, ich kenne dieses Dorf. Es liegt in der Uckermark. Du solltest dorthin fahren.“ Nun, er fuhr dorthin, recherchierte mehrere Jahre, sprach mit den Menschen dort. Das Ergebnis: Vor dem Fest.
Ein Phantasiedorf, das - so die Anspielungen im Roman - auch an anderen Orten funktioniert und ein ganz spezielles Dorf, Fürstenfelde, im Osten Deutschlands gelegen, mit seiner spezifischen Geschichte, die weit zurückreicht: Von der Nachwende- über die Vorwendezeit, die Zeit der DDR, der Zeit nach und vor 1945 und noch weiter zurück in die unausdenklichen Weiten der Geschichte und der Prähistorie. Denn: Die Ahnen sind immer dabei, wie der Sinnspruch, das Motto, zu Beginn des Romans signalisiert.
Verrückt, absurd, traurig, komisch, wild und manchmal zärtlich
Ich fand das Buch total verrückt, absurd und dachte die ganze Zeit: Was mache ich hier? Wieso lese ich das? Und das Verrückteste: Ich wollte weiterlesen. Solch ein Buch kannte ich noch nicht. Das war etwas ganz anderes. Ja, verrückt, ja absurd, aber auch witzig, schräg, komisch, wild und lässig, so unglaublich lässig. Das muss man können. Saša Stanišic kann das. Er ist ja ein Zauberer, die können das. Und die Geschichte der Entstehung dieses Buches hat mir überaus gefallen. Man erfindet sich ein Dorf und entdeckt dann, dass es das schon gibt, mehr oder weniger. Wer es kann, der kann es eben.
Sind Sie also auf der Suche nach Abenteuern, nach Unbekanntem, nach etwas Neu-Altem, vielleicht etwas Grusel? Dann ist Fürstenfelde der richtige Ort für Sie. Da müssen Sie hin.
btb-Verlag - 2015 - Buch
1102
Strout, Elizabeth
Elizabeth Strout – Die langen Abende (Olive, again)
Sabine Roth
Elizabeth Strout – Die langen Abende (Olive, again)
I always wanted to write.
Ich wollte immer schreiben.
Elizabet Strout, geb. 1956 in Portland/Maine/USA, studierte Rechtswissenschaften und Gerontologie. Schon nach Abschluss des Studiums begann sie, Kurzgeschichten für verschiedene Zeitschriften zu verfassen. Ihr 1998 erschienener erster Roman, Amy und Isabelle, wurde mit dem Los Angeles Times Book Prize für das bester Erstlingswerk ausgezeichnet. Ihr späteres Werk Olive Kitteridge (Deutsch: Mit Blick auf das Meer) war ein großer literarischer Erfolg, für den sie u.a. den Pulitzer-Preis bekam. 2019 veröffentlichte sie Olive, again (Deutsch: Die langen Abende), das die mittlerweile alte Mathematiklehrerin wieder zum Thema hat.
Olive und die langen Abende
Die lebensbejahende, tatkräftige und mittlerweile alte Olive sieht sich konfrontiert: Mit langen, einsamen Abenden, mit dem Alter und den damit verbundenen Schwierigkeiten sowie gesundheitlichen Problemen. Ihr Ehemann, den sie zeitlebens nicht so gut behandelt hat, ist gestorben. Wie das so ist: Er fehlt ihr nun. Sie lebt allein, das Verhältnis zu ihrem Sohn und dessen Familie ist nicht gut. Und Olive ist nicht einfach, war sie nie. Sie eckte und eckt an, ist nach wie vor sperrig und unduldsam. Und so mancher Hieb, den sie unbedacht und bedenkenlos ausgeteilt hat, fällt nun auf sie zurück.
Aber Olive wäre nicht Olive, wenn sie sich kampflos dem Alter und der Einsamkeit ergeben würde. Sie ist auch eine Kämpferin. Und bereit, über sich und ihr Leben, ihre Beziehungen nachzudenken. Dabei erkennt sie, dass ihre Einsamkeit nicht nur Teil ihrer Persönlichkeit ist, sondern auch mit ihrem Verhalten ihren Mitmenschen gegenüber zusammenhängt. Manche Menschen in der kleinen Stadt Crosby an der Küste von Maine erleben sie auf einmal milder, zugewandter und zugänglicher.
Letztlich muss man Olive mögen, auch in ihrer Ruppigkeit einerseits und andererseits mit ihrer Hilfsbereitschaft und allen ihren Ecken und Kanten. Und Olive ist nicht ganz allein: Die Kleinstadt beherbergt Bekannte, Freunde und Nachbarn mit ihren Geschichten, die es sich lohnt, kennenzulernen.
Olive again - aber sehr gern
Schon mit „Blick aufs Meer" (Olive Kitteridge) lernen die LeserInnen die knorrige, selbstbewusste Olive kennen. Sich mit ihr anzulegen ist nicht ratsam. Das bekommen neben Ehemann und Sohn auch andere Leute zu spüren. Aber Olive und all die anderen sind nicht nur knorrig, verschroben, gescheitert, enttäuscht und einsam, Meister im Verpassen von Lebensmöglichkeiten. Elizabeth Strout zeigt auch die andere Seite dieser Menschen: Güte, Verletzlichkeit, Hilfsbereitschaft, Sehnsucht nach einem anderen, einem besseren Leben. Menschen mit all ihren Schwächen und Lebenslügen, aber auch mit dem Guten, das in ihnen liegt. Es sind die Geschichten einfacher Leute, liebevoll und mit feinem Humor gezeichnet.
Luchterhand - 2019 - Buch
1126
Strout, Elizabeth
Lucy Barton und ihre Geschichte
Sabine Roth
Elizabeth Strout, geboren 1956 in Maine, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin.
Vielfach ausgezeichnete Autorin (Pulitzer-Preis, jüngst Siegfried-Lenz-Preis 2022 u.a.)
Die Unvollkommenheit der Liebe (2016)
In bislang vier Büchern widmet sich Elizabeth Strout der zweiten wichtigen Frauenfigur in ihrem Schaffen neben Olive Kitteridge. Lucy Barton ist ihre Heldin, eine erfolgreiche Schriftstellerin, die nicht so recht an diesen Erfolg glauben kann, die so ganz anders geartet scheint als die knorrige, zornige und doch liebenswerte Olive.
Lucy erzählt zum ersten Mal aus ihrem Leben in „Die Unvollkommenheit der Liebe“. Sie liegt im Krankenhaus nach eine komplizierten Blinddarm-OP. Zwischen Tag und Traum, Wachen und Dämmern erinnert sie sich an ihre trostlose, von Gewalt gezeichnete Kindheit in einem kleinen Kaff in Illinois. Sie und ihre beiden Geschwister Victoria und Pete leben in äußerster Armut, ständig in Angst vor der unberechenbaren gewalttätigen Mutter und dem durch den 2. Weltkrieg völlig aus der Bahn geworfenen Vater. Er war als Soldat in diesem Krieg gewesen und kommt mit dem Leben danach nicht mehr zurecht. In Lucys Dämmerzustand taucht plötzlich und mehr als unerwartet ihre Mutter an ihrem Bett auf, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen und zu der sie nur sporadisch per Telefon Kontakt hatte. Sie war vom Schwiegersohn William über Lucys Krankhausaufenthalt informiert worden.
Lucy versucht, ihre Mutter in ein Gespräch über die Kindheit und die Ursachen für deren Verhalten zu ziehen. Doch die Mutter weicht immer wieder aus. Sie spricht lieber über die Menschen aus dem weiteren Lebensumfeld und ihre Fehler bzw. ihr Scheitern. Im Verlauf wird deutlicher, dass die Mutter auch ihre Geschichte hat und mit dem Ausweichen in gewisser Weise Hinweise gibt, die aber nicht so leicht als solche zu erkennen sind.
Am Ende ist Lucy, die sich sehr über ihr Kommen gefreut hat, fast froh, als sie wieder verschwindet. Lucy wird ihr Leben ohne Erklärungen oder Entschuldigungen von Seiten der Mutter, ohne ein tieferes Zeichen von Hinwendung oder gar Liebe weiterleben und ihren Weg gehen müssen, immer auf der Suche nach einem Zuhause, nach Liebe und Geborgenheit.
Alles ist möglich (2017)
In diesem Erzählband erkundet Elizabeth Strout das Umfeld, in dem Lucy Barton mit ihrer Familie aufwuchs. Wir begegnen den Menschen, die die Familie erlebt haben, erfahren, wie Bruder Pete und Schwester Victoria mittlerweile leben. Lucy taucht nur in einer Episode auf, die ihr eindringlich vor Augen führt, dass sie zwar der elterlichen Hölle dank der Hilfe einer Lehrerin, die sie förderte, entkommen konnte, ihre beiden Geschwister jedoch nicht. Alle Menschen, die ihre Geschichte hier erzählen, kämpfen mit ihrer Herkunft, mit Armut und Vernachlässigung als Kinder, mit Existenzsorgen und Zukunftsängsten. Allen gemeinsam ist, dass sie nicht aufgeben und sich ihren Platz und ihr Leben erkämpfen.
Oh William (2021)
In diesem Buch erzählt wieder Lucy selbst ihr Leben und ihre Geschichte. Sie ist nun Mitte Sechzig, ihr zweiter Mann David, den sie einige Zeit nach der Scheidung von William geheiratet hat, ist gestorben. Mit ihm war sie sehr glücklich und entsprechend trauert sie um ihn. Da tröstet es sie, dass William ihr zur Seite steht. Mittlerweile sind sie so etwas wie Freunde geworden. William ist in dritter Ehe verheiratet, hat mit dieser viel jüngeren Frau eine Tochter. Die beiden Töchter aus der Ehe mit Lucy sind erwachsen und haben ihre eigenen Probleme, halten aber die Verbindung zu beiden Elternteilen aufrecht. Man hat sich arrangiert und ist ganz zufrieden mit diesem Zustand.
Doch William schwächelt: In der neuen Ehe kriselt es, ja, er wird verlassen, das Älterwerden fällt ihm schwer. Lucy avanciert zu seiner Vertrauten. Und ihr erzählt er auch, dass er in einem Ahnenportal, dessen Zugang seine 3. Ehefrau ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, einiges Merkwürdige über seine Mutter erfahren hat. Catherine Cole, so ihr Name, war für Lucy immer ein leuchtendes Vorbild an Vornehmheit und Wissen darum, wie man sich wo benimmt, bewegt und kleidet. Durch William und Catherine hat sie mühsam in das Leben der Bessergestellten gefunden, eine Art Bildungskanon durchlaufen. Nun müssen William und dann Lucy erfahren, dass Catherines Vorleben nicht dem Bild entspricht, das sie von sich selbst entworfen und gezeichnet hat. Und vor allem, dass sie schon einmal verheiratet gewesen war und ein Kind aus dieser Verbindung existiert.
William überredet Lucy, ihn auf der Suche nach dieser Schwester zu begleiten und ihn seelisch zu unterstützen. Es entwickelt sich eine Art Roadmovie, das die beiden in Williams Vergangenheit führt, mehr noch in die seiner Mutter, aber auch in Lucys. Jede Menge Überraschungen warten auf die Beiden, die sich nach langer Entfremdung wieder annähern. Nicht ohne Humor schildert Lucy ihre Reise in die Vergangenheit. Und insbesondere sie profitiert von den gewonnenen Erkenntnissen.
Beide Charaktere sind verletzlich, sensibel, anstrengend für sich und andere, doch mehr und mehr liebenswert und die Leser und Leserinnen bekommen Lust, sie auf ihrem Weg ins Alter weiter zu begleiten.
Lucy by the Sea (2022)
Dieses Buch, erschienen im Herbst 2022, gibt es bis jetzt (Dezember 2022) nur auf Englisch, das aber, da amerikanisches Englisch, nicht schwer zu lesen ist. Elizabeth Strout schickt die beiden, William und Lucy, auf eine Reise nach Maine, wo seine Familie herkommt und seine Halbschwester lebt. Er hatte vermieden, sie persönlich kennenzulernen. Nun zieht es ihn in ihre Nähe. Diese Annäherung geschieht wohl auch unter dem Eindruck der gerade beginnenden Corona-Pandemie Anfang 2020. Er überredet Lucy, ihn an die Küste von Maine zu begleiten und den Verlauf der Pandemie aus einem sichereren Umfeld als New York, wo sie wohnen, zu erleben. Lucy geht, wie die meisten, davon aus, dass ihr Aufenthalt sich nicht so lange hinziehen wird und begreift erst langsam, wie ernst die Situation ist.
Sie mieten ein Haus am Meer und verbringen dort die nächste Zeit bis ungefähr Mitte 2022. In dieser Zeit verändert sich alles und auch sie. Am Ende ist nichts mehr wie vorher, die politischen Ereignisse nach der US-Wahl 2019 bis 2022 erschüttern Williams und Lucys Vertrauen in das demokratische System der USA, die Pandemie fordert zudem ihren Tribut. Doch Lucy wäre nicht Lucy und William nicht William, wenn sie nicht weiter um ihren Platz im Leben kämpfen würden. Auch in ihrem zunehmenden Alter.
Übrigens gibt es in „Lucy by the Sea“ eine Art Begegnung mit Olive Kitteridge, die mittlerweile in einem Altersheim in der Nähe der Beiden lebt. So schließen sich Kreise. Ob „Lucy by the Sea“ das letzte Buch über Lucy und William ist, bleibt abzuwarten.
Lucy Barton - Ein Frauenleben
Mit viel Liebe, Humor, Scharfsinn und Genauigkeit begleitet Elizabeth Strout ihre Menschen. Sie sind unvollkommen, handeln nicht immer richtig, fallen, scheitern, stehen auf und machen weiter. Wie im richtigen Leben. Sie kämpfen und lassen sich nicht entmutigen. Im Laufe der Zeit werden sie zu Freundinnen und Freunden, von denen die Leser und Leserinnen gerne Neues erfahren.Die scheinbare Einfachheit der Texte darf nicht über etwas Entscheidendes hinwegtäuschen, wie es auch in der Begründung für die Verleihung des Siegfried-Lenz-Preises im Sommer 2022 heißt:
„Der Siegfried Lenz Preis würdigt so eine Autorin, deren Texte ungemein kunstvoll gebaut sind, die Genregrenzen zwischen Roman und Erzählung verwischen, von großer Humanität zeugen und in ihren wechselnden Perspektiven davon erzählen, welche Widerstandkraft die Einzelnen zu entwickeln vermögen, wenn sie gegen die Zumutungen des Lebens aufbegehren.“ Dem ist (fast) nichts hinzuzufügen, außer, diese wunderbare Autorin zu lesen.
Luchterhand - 2021 - Buch
1084
Travers, Pamela Lyndon
Pamela Lyndon Travers - Mary Poppins
Elisabeth Kessel
Pamela Lyndon Travers - Mary Poppins
Von Australien nach England
Pamela Lyndon Travers, geb. 1899 in Queensland, Australien, wanderte 1923 nach England aus. Sie schrieb in George W. Russels „The Irisch Statesman“ ihre ersten Arbeiten in England. In Australien hatte sie schon Kurzgeschichten veröffentlicht, für Zeitungen gearbeitet und sich als Schauspielerin versucht, wenn auch nicht sehr erfolgreich. Berühmt wurde sie dann durch ihre Mary-Poppins-Bücher, das erste wurde 1934 veröffentlicht. 1935 erschien der zweite Band, nach dem Krieg kamen noch zwei weitere Bände heraus, die auch auf Deutsch erschienen sind: Mary Poppins, Mary Poppins kommt wieder, Mary Poppins öffnet die Tür sowie Mary Poppins im Park (letzteres eine Sammlung von Erzählungen mit diesem Charakter). Die Verfilmung durch Walt Disney als Musical wurde weltweit ein Erfolg, wenn auch der Film wenig mit den Büchern zu tun hat, sieht man von den Figuren und einer Reihe von Geschichten ab. Sie werden aber allesamt den Charakteren des Buches nicht gerecht. Pamela Travers starb 1996 in London. Wer mehr über die Autorin erfahren möchte, den verweise ich auf meine Kritik des Buches von Valerie Lawson: Mary Poppins, she wrote – The Life of P.L. Travers.
Eine Welt für sich - Mary Poppins und das Reich der Phantasie
Die Bücher
Die meisten Menschen kennen Mary Poppins durch die Disney-Verfilmung. Allerdings ist July Andrews in dieser Rolle viel zu nett. Dem sperrigen Charakter der Romanfigur wird der Film nicht gerecht. Mary Poppins sieht aus wie eine Holländer-Puppe, ist häufig griesgrämig, manchmal ungerecht, unberechenbar in ihrem Verhalten, durchaus autoritär und vor allem eines: geheimnisumwittert. Niemand weiß, woher sie kommt und wohin sie geht. Überall finden sich völlig unverhofft Mitglieder ihrer Familie, die oft skurril und nicht minder geheimnisvoll sind als sie selbst und die sie später verleugnet. Die Kinder der Familie Banks, Jane, Michael und die Zwillinge sowie später auch das Nesthäkchen Annabell, wissen nie so recht, wie sie mit ihr dran sind. Das wissen ihre Eltern auch nicht. Aber Mary Poppins hat etwas, was die anderen Kindermädchen nicht haben: Sie ist mit allen Märchenfiguren der Welt bekannt und mit verschiedenen Gestalten aus Büchern (wie Alice im Wunderland) oder Mythen und Märchen. Ja, vielleicht ist sie selbst so etwas wie eine Göttin. Jedenfalls verfügt sie märchenhafte Kräfte; erfüllt oder verweigert Wünsche, lässt Menschen zusammenkommen, die sich gar nicht kennen oder vielleicht sogar sehr gut – nur dass sie nichts von einander wissen. Jeder hat mindestens eine andere Seite und die ist mit einem Mal viel wichtiger und realer als die allen bekannte. Mary Poppins kann an andere Orte und in andere Zeiten versetzen, kann Zeit und Raum aufheben. Und am Ende fragen sich die Menschen: War das real oder ein Traum? Wer weiß.
Fazit
Die Bücher sind gut zu lesen, voller Phantasie. Mary Poppins kann aus dem Nichts eine Geschichte zaubern, aus Leere ein Füllhorn an Ereignissen hervorbringen. Sie ist wirklich kein Vorbild für moderne Erziehungsmethoden und ihre Schöpferin war als Mutter nicht sehr erfolgreich. Dennoch sind ihre Bücher bis heute lesenswert. Ich habe die Bände in meiner Kindheit geschenkt bekommen und lese sie bis heute von Zeit zu Zeit. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie P. Travers es schafft, aus einer kleinen Begebenheit, aus ein paar Blättern im Park, aus ein paar Krumen für Vögel ganze Geschichten zu zaubern. Geschickt verbindet die Autorin ihre eigene Phantasiewelt mit der anderer Autoren, Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ z.B. oder verschiedener Märchenfiguren, die plötzlich in ihren Büchern auftauchen. Oder mythische Gestalten werden zum Leben erweckt wie der Junge mit dem Delphin oder die Plejaden aus dem Stern des Orion. Und so geschickt macht sie dies, dass man am Ende denkt: Ach bitte, noch eine Geschichte. Mary Poppins, komm wieder.
Cecilie Dressler Verlag Hamburg - 1999, 2000, 2005, 2006 - Buch
1037
Ümit, Ahmet
Die Gärten von Istanbul
Übersetzung: Sabine Adatepe
Nevzat ist Oberinspektor beim Morddezernat Istanbuls. Er hat seine Frau und seine Tochter bei einem Attentat verloren. Seitdem leidet er unter Schuldgefühlen und ist verloren in seiner Trauer und seinem Schmerz um die beiden.
Als an der Atatürk-Statue ein Toter gefunden wird, zieht man Nevzat hinzu. Schnell wird klar, es handelt sich um Mord. Das Opfer, bekannter Professor für Kunstgeschichte, ist in seltsamer Position nahezu drapiert, eine historische Münze in der Hand. Von Anfang an vermuten Nevzat und seine Kollegen Ali, ein Heißsporn, und Zeynap, eine eher besonnene Polizistin, dass der oder die Täter ihnen damit eine Nachricht zukommen lassen wollen. Aber welche?
In den folgenden Tagen werden immer wieder Mordopfer an historischen Stätten ähnlich drapiert gefunden, ohne dass es tragfähige Hinweise auf die Täter gäbe. Gemeinsam ist: Alle gehören sie zur so genannten besseren Gesellschaft und haben geschäftlich oder privat miteinander zu tun. Verdächtige sind einige da, aber nichts ist zu beweisen. Allerdings stellt sich heraus, dass die Opfer alle etwas zu verbergen haben. Sie sind in gemeinsame schmutzige Geschäfte verstrickt.
Aber warum hat man sie ermordet und warum in diesen theatralischen Positionen? Handelt es sich um Verrückte, Verbrecher oder Idealisten, die gegen die Machenschaften dieser Leute kämpfen, und dabei vor Mord nicht zurückschrecken?
Eine große Rolle scheint die Stadt Istanbul mit ihrer mehr als tausendjährigen Geschichte zu spielen. Sie ist die eigentliche Protagonistin: Überbordend, unbezähmbar, zwischen zwei Kontinenten gelegen, reich, arm, geheimnisvoll.
Ahmet Ümits Bücher sind Krimi und Literatur in einem. So auch in diesem Roman. Und die Leser erfahren sehr viel über Istanbul, seine Geschichte und Gegenwart, über die Unterschiede und Widersprüche der modernen türkischen Gesellschaft. Seine Sprache ist klar, ohne Schnörkel, aber auch an bestimmten Stellen poetisch und ein bisschen mytisch-mystisch, beispielsweise bei Kapitelanfängen. Sie enthalten eine Botschaft, die aber nicht leicht zu enträtseln ist. Also: Lesenswert
Btb - 2017 - Buch
1038
Ümit, Ahmet
Nacht und Nebel
gebundene Ausgabe 2005, Taschenbuch 2008
Übersetzer: Wolfgang Scharlipp
Biographisches
Ahmet Ümit, geboren 1960 in Gaziantep im Südosten der Türkei. Studium der Verwaltungslehre, 1983 abgeschlossen.
Im gleichen Jahr erste Veröffentlichung einer Erzählung. Einige Jahre war er Mitglied der Türkischen Kommunistischen Partei. Er beteiligte sich in der Zeit der Militärdiktatur an Untergrundaktionen, musste dann untertauchen. Ohne seine linken Überzeugungen aufzugeben, distanzierte er sich dann aber von der Partei, weil er ihre autoritären Züge erkannte. Er arbeitete in einer Werbeagentur, später konzentrierte er sich auf seine schriftstellerische Tätigkeit. In der Türkei ist er sehr bekannt. Seine Kriminalromane sind mehr als spannende Unterhaltung. Sie sind auf hohem sprachlichen Niveau verfasst und gleichzeitig spiegeln sie die politischen und gesellschaftlichen Zustände in der Türkei. Viele seiner Erzählungen wurden verfilmt. Ins Deutsche sind bislang drei Romane übersetzt worden.
Nacht und Nebel erschien schon 1996 in der Türkei, im deutschsprachigen Raum 2005. Es ist das Verdienst des Unionsverlags, dass er vielen nicht-deutsch-sprachigen Autoren eine Möglichkeit der Veröffentlichung bot. Sie stellen eine große Bereicherung für Bücherfreunde dar. Ein bisschen schade finde ich, dass dann später die großen Verlage kommen, offensichtlich bessere Bedingungen anbieten, und dann die Autoren für sich reklamieren. Doch ohne den Unionsverlag hätten sie sich nie und nimmer für sie interessiert. Doch, so ist das Geschäftsleben, auch im Literaturbetrieb.
Nacht und Nebel ist Kriminalroman, aber viel mehr: Ein Buch über die türkische Gesellschaft, über Gewalt, Machenschaften des Geheimdienstes, staatlichen Terror und die bürgerliche Gesellschaft, die Andersdenkende ausgrenzt, zu Außenseitern macht. Es ist auch ein Roman über Lebensentwürfe, die sich als brüchig herausstellen, und über Lebenslügen, die aus diesen Brüchen entstehen, die man versucht zu überbrücken und an denen man scheitert. Kompositorisch ist das Buch anspruchsvoll wie auch die Sprache, die aber gleichzeitig klar und verständlich bleibt. Es gibt viele alptraumhafte Sequenzen, surreale Situationen. Doch wird deutlich: Sie haben mit der Persönlichkeit des Protagonisten Sedat zu tun und weisen ihn und die Leser (die das wahrscheinlich eher bemerken als er) auf seine verdrängten Ängste, Emotionen und Probleme hin. Das Gefühl von schuldhaftem Handeln beschleicht einen, auch wenn zunächst nichts auf eine persönliche Schuld Sedats hindeutet.
Die Handlung
Sedat ist Geheimdienstmitarbeiter. Er entkam knapp einem Attentat, liegt im Krankenhaus und versucht sich zu erinnern, was geschehen ist. Er ist verheiratet, hat aber eine Geliebte, Mine. Sie ist verschwunden. Sedat ist von dem Gedanken besessen, sie zu finden. Obwohl noch nicht genesen, macht er sich auf die Suche nach ihr. Und man kann sagen, er macht sich damit auch auf die Suche nach sich selbst. Denn mit seinen Recherchen begibt er sich auf eine Reise, von der nicht klar ist, wo sie endet. Er entfremdet sich zunehmend von seiner Familie, seinen Vorgesetzten und Kollegen. Er gerät an gesellschaftliche Außenseiter, Kriminelle und in Milieus, die ihm bislang fremd waren. Sein Leben gerät in Unordnung, innerlich wird er zunehmend unsicher. Wem kann er glauben, vertrauen? Nicht einmal sich selbst? Er erfährt sich selbst als fremd und unheimlich. Wer ist er eigentlich? Was ist mit seinen Idealen, Überzeugungen? Wohin haben sie ihn geführt? Was ist aus ihm geworden? Und was ist mit seiner Schuld?
Die Lösung am Ende ist wirklich überraschend. Und man sollte nicht nachschauen. Das Ende ist eigentlich folgerichtig.
Überaus lesenswert, inhaltlich wie sprachlich anspruchsvoll. Das ist Literatur im Gewand eines Kriminalromans. Die Leser lernen sehr viel über die Türkei bzw. die türkische Gesellschaft.
Unionsverlag - 2008 - Buch
1082
Vargas Llosa, Mario
Der Hauptmann und sein Frauenbataillon
Originalausgabe erschienen 1973
Übersetzerin: Heidrun Adler
Mario Vargas Llosa, geboren 1936 in Arequipa/Peru ist einer der führenden lateinamerikanischen Schriftsteller. Er arbeitet u.a. als Journalist und Essayist. Seit 1993 hat er auch die spanische Staatsbürgerschaft. Von Jugend auf betätigte er sich politisch, war Vorsitzender einer neuen liberalen Partei in Peru, 1990 bewarb er sich um das Amt des Präsidenten, unterlag aber in der Stichwahl Alberto Fujimori. 2010 bekam er den Nobelpreis für Literatur. Aufsehen erregte er mit seinem Erstlingswerk „Die Stadt und die Hunde“, in dem er die verschiedenen Orts- und Zeitebenen des Romas permanent nebeneinander reihte, so dass der Leser/die Leserin bei fast jedem Satz überlegen muss, wer wo mit wem spricht. Diese Desorientierung der Leser sollte – so Vargas Llosa – der Desorientierung der handelnden Personen entsprechen. Dieses Stilelement verwendet er mehr oder weniger ausgeprägt in seinen folgenden Romanen, die teilweise dem Genre des Kriminalromans, des Politischen Thrillers, des Historischen Romans oder der Komödie zuzurechnen sind. Seine Lebensgeschichte ist geprägt von seinen Erfahrungen in Peru, der Gewalt innerhalb der Gesellschaft ebenso wie der allgemeinen Korruption auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen. Sein Thema ist auch die teilweise rassistische Gesellschaftsordnung in der Gesellschaft Lateinamerikas.
Der Hauptmann und sein Frauenbataillion
Eine wahrlich verrückte, abstruse Geschichte: Hauptmann Pantaleon, ein untadeliger, etwas langweiliger Soldat, erstarrt in Routine, bekommt einen Geheimauftrag von seiner militärischen Führung, der ihn seinem bürgerlichen zufriedenen (mehr oder weniger) Dasein mit braver Ehefrau entreißt und ihn in die unmöglichsten Affären verstrickt. Bald weiß er nicht mehr, was richtig oder falsch ist, wo sein ruhiges Leben geblieben ist und wie das alles zu dem kam und vor allem, wie es weitergehen soll. Hauptmann Pantaleon findet sich im schwülheißen Dschungel des hinteren Amazonas-Gebietes wieder. Die Soldaten fallen mangels anderer Gelegenheiten über brave Bürgermädchen und -Frauen her. Deren Mütter und Väter und Ehemänner beschweren sich bei der Militärführung, die sich daraufhin ziemlich unziemlich kreativ verhält. Die Wahl für die Durchführung dieses unziemlichen Unternehmens fällt auf den verblüfften Hauptmann und bisherigen Mustergatten Pantaleon, der sich dann allerdings mit Leib und Seele und sehr akribisch dem Projekt verschreibt: Pantaleon soll einen „weiblichen Dienst“ einrichten, der für die erotisch geplagten Soldaten Entlastung schaffen soll. Dazu rekrutiert Pantaleon die unterschiedlichsten Frauen aus allen Bevölkerungsschichten, alle Freiwillige im Dienst einer guten Sache. Bald jedoch entgleitet Pantaleon zunehmend die Angelegenheit, aber aus völlig anderen Gründen, als der/die LeserIn im Vorfeld annehmen möchte.
Um das Ganze weiter zu verwirren, mischt sich eine religiöse Bewegung dauernd ein, deren Mitglieder sich mit Vorliebe selbst kreuzigen und die den Untergang des bestehenden Systems predigen. Die Wege der sehr unterschiedlichen Gruppen kreuzen sich immer wieder und auch andere werden immer tiefer in die Sache hineingezogen.
Viel zu tun also für Hauptmann Pantaleon und sein Frauenbataillion.
Verrückt, absurd und sehr menschlich
In diesem Buch verwendet Mario Vargas Llosa noch einmal seine Technik der Simultananordnung der Handlungsstränge. Alle paar Sätze fragt man sich, wer da mit wem spricht und an welchem Ort das Ganze stattfindet. Hier ist das Ratespiel allerdings sehr vergnüglich und unterhaltsam. Die verrückte Geschichte mit ihren aberwitzigen Wendungen macht viel Spaß, entführt in den schwülheißen Dschungel Amazoniens und in die ebenso schwülen Gedanken, Phantasien und Empfindungen diverser Leute. Viel Ironie ist im Spiel, Witz und Kritik am Machismo Lateinamerikas sowie der Männergesellschaft überhaupt, aber auch eine Abrechnung mit dem heuchlerischen Bürgertum, das bei anderen anprangert, was es selbst gerne täte. Die vielen ebenso absonderlich scheinenden religiösen Gruppierungen komplettieren das Panoptikum des Buches. Und Hauptmann Pantaleon wird zunehmend sympathisch und menschlich, je mehr er sich verliert in seinen Berechnungen und Überlegungen.
Suhrkamp Taschenbuch - 1984 - Buch
1081
Vargas Llosa, Mario
Tante Julia und der Kunstschreiber
Übersetzerin: Heidrun Adler
Mario Vargas Llosa, geboren 1936 in Arequipa/Peru ist einer der führenden lateinamerikanischen Schriftsteller. Er arbeitet u.a. als Journalist und Essayist. Seit 1993 hat er auch die spanische Staatsbürgerschaft. Von Jugend auf betätigt er sich politisch, war Vorsitzender einer neuen liberalen Partei in Peru. 1990 bewarb er sich um das Amt des Präsidenten, unterlag aber in der Stichwahl Alberto Fujimori. 2010 bekam er den Nobelpreis für Literatur. Aufsehen erregte er mit seinem Erstlingswerk „Die Stadt und die Hunde“, in dem er die verschiedenen Orts- und Zeitebenen des Romas permanent nebeneinander reihte, so dass der Leser/die Leserin bei fast jedem Satz überlegen muss, wer wo mit wem spricht. Diese Desorientierung der Leser sollte – so Vargas Llosa – der Desorientierung der handelnden Personen entsprechen. Dieses Stilelement verwendet er mehr oder weniger ausgeprägt in seinen folgenden Romanen, die teilweise dem Genre des Kriminalromans, des Politischen Thrillers, des Historischen Romans oder der Komödie zuzurechnen sind. Seine Lebensgeschichte ist geprägt von seinen Erfahrungen in Peru, der Gewalt innerhalb der Gesellschaft ebenso wie der allgemeinen Korruption auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen. Sein Thema ist auch die teilweise rassistische Gesellschaftsordnung in der Gesellschaft Lateinamerikas.
Tante Julia und der Kunstschreiber
In diesem Buch verarbeitet Vargas Llosa die eigene Liebesgeschichte. Mit 19 Jahren heiratete er die Schwester einer Schwägerin seiner Mutter, also eine Art Tante. 1964 wurde die (kinderlose) Ehe geschieden, sie hielt also doch 28 Jahre.
Die Geschichte spielt in den 1950er Jahren. Julia, 32 Jahre, Bolivierin, frisch geschieden, kommt nach Lima, um sich einen neuen Ehemann zu suchen. Stattdessen verliebt sich der 18jährige Mario in sie und lässt sich nicht abweisen. Er ist Student der Jurisprudenz, aber nicht sehr interessiert an seinem Fach. Er verdient sein Geld bei einer Radiostation und träumt von einem Leben als Schriftsteller in einem Pariser Dachzimmer. Doch mit der Zeit wird aus der Verliebtheit eine große Liebe, die sich behaupten muss gegen die Familie, die das natürlich versucht zu unterbinden – schon wegen des Altersunterschiedes. Die beiden fliehen und landen nach einer Irrfahrt durch die peruanische Provinz in einem Nest mit einem bestechlichen Bürgermeister. Er traut den Minderjährigen mit der um vierzehn Jahre älteren Tante Julia.
Das ist die eine Ebene des Romans. Es gibt aber da noch einen begeisterten Radiomenschen, der immer neue Reportagen schreibt bzw. für das Radio einrichtet, Pedro Camacho. Er wird zunächst von allen verkannt und gilt als Sonderling. Aber dann macht er doch Karriere mit seinen phantastischen Geschichten, die die Serien verrückten HörerInnen Perus in ihren Bann ziehen.
Fazit
Das Buch ist nicht politisch ausgerichtet im engeren Sinn, auch wenn an verschiedenen Stellen so etwas wie Gesellschaftskritik durchscheint. Es ist vor allem sehr vergnüglich und spannend zu lesen, voller Überraschungen, insbesondere zu Anfang – bis man das Ganze einigermaßen durchschaut. Der Phantasie sind so gut wie keine Grenzen gesetzt. Die Technik, die Vargas Llosa zu Beginn seiner Schriftstellerdaseins bis zum Exzess durchexerziert hat, ist hier sehr gemildert und das Buch daher viel leichter zu lesen. Und nebenbei lernt man eine ganze Menge über die Radio- und Serienverrücktheit der Lateinamerikaner, die selbst den absonderlichsten und abstrusesten Geschichten noch etwas abgewinnen kann.
Suhrkamp Taschenbuch - 1995 - Buch
1083
Waugh, Sylvia
Die Mennyms
1993-1996 auf Englisch erschienen
Cornelia Krutz-Arnold
Sylvia Waugh
Sylvia Waugh wurde 1935 in Gateshead, England, geboren, wo sie auch zur Schule ging. Später studierte sie Anglistik und war als Englischlehrerin tätig. Sie ist Mutter von drei Kindern.
Das geheime Leben der alltäglichen und weniger alltäglichen Gegenstände um uns herum
Die Mennyms, Die Mennyms auf der Flucht, Die Mennyms in der Falle, Die Mennyms ganz allein
Die Reihe startet mit einem Brief, den ein ratloser Erbe, Albert Pond, an einen ihm unbekannten Sir Magnus schreibt. Und damit eine Reihe von verwirrenden Ereignissen auslöst, die sowohl den Angeschriebenen als auch ihn betreffen. Albert wird mit einigen seltsamen Gestalten bekannt, die es eigentlich nicht geben dürfte. Und Sir Magnus mit seiner Familie wird aus dem ruhigen Leben in einer Vorstadtvilla gerissen mit der beunruhigenden Vorstellung, dass ihr gesamtes geheimes Leben nur ans Tageslicht kommt und ihr Leben und ihrer aller Zukunft in Gefahr ist.
Denn die Familie Mennym, an die der Brief sich richtet, ist keine gewöhnliche. Sie sind eine Stoff-Familie, aus Lumpen bzw. Stoffresten zusammengesetzt: Die Eltern, die Großeltern, die Kinder (Mädchen und Junge) wurden nach dem Tod ihrer Schöpferin auf geheimnisvolle Weise lebendig. Irgendwie haben sie es mit großer Anpassungsfähigkeit geschafft, ihr Leben zu gestalten, ohne von Nachbarn oder irgendeinem Menschen behelligt zu werden. Sie leben nach außen hin ein ganz normales, ein wenig spießiges Leben. Viele Jahre hat sich niemand um sie gekümmert. Doch nun platzt Albert Pond mit seinem Brief in ihr Leben. Und fortan ist nichts mehr so, wie es einmal war. Die Mennyms müssen sich überlegen, wie mit der Situation umgehen, sie müssen – schreckliche Vorstellung – mit bestimmten Menschen Kontakt aufnehmen und hoffen, dass ihr Vertrauen in sie gerechtfertigt ist.
In jedem Band haben sie neue Herausforderungen und Abenteuer zu bestehen. Aber die Konflikte werden nicht nur von außen an sie herangetragen. Auch Konflikte innerhalb der Familie brechen auf: Die Kinder fühlen sich gegängelt, wollen nicht nur in der Familie leben, auch die Stoffpuppen kommen in die Pubertät. Sie sehnen sich nach Veränderung, innerlich wie äußerlich. Doch wie geht man damit um, dass man äußerlich immer gleich bleibt und keine Möglichkeit der Veränderung hat? Wie lebt es sich in einer Großfamilie, die gezwungen ist, immer aufeinander zu hocken, da es ja keine Außenkontakte geben darf? Wie lebt man mit der ständigen Angst vor Entdeckung? Wie lebt man mit Verletzungen, die nicht geheilt werden können aufgrund der geheimen Existenz und als Puppen aus Stoffresten? Brennbar sind die Mennyms übrigens leider auch. Was bedeutet, dass jede Art von Feuer oder brennbarem Material für sie gefährlich ist. Sylvia Waugh zeigt die verschiedenen Stadien und Situationen der Familie und was es bedeutet, keinerlei Außenkontakte zu haben. Was sehr idyllisch, ja spießig mit Tee-Zeremonie und Gebäck zubereiten beginnt, zeigt dann doch bald Risse. Die Mennyms überstehen alles, wenn auch durchaus mit Veränderungen. Doch die größte Herausforderung kommt im letzten Band, als sie erfahren, dass ihre relative Unsterblichkeit in Gefahr ist. Sie müssen sterben. Können sie das noch verhindern? Wer hilft ihnen und ist das Ende wirklich das Ende? Das sollten geneigte Leser denn doch selbst herausfinden.
Seltsame Bücher mit Tiefgang
Ich war über das erste Buch, das mir vor Jahren zufällig in die Hände fiel, sehr erstaunt. Und mochte die Mennyms auf Anhieb. Ja, sie sind die Vorzeige-Spießer-Familie mit den typisch britischen Tugenden bzw. Untugenden, sie trinken Tee (den sie nicht wirklich trinken) und bereiten die dazu gehörigen Speisen zu (die sie natürlich auch nicht essen). Sie erwecken den Anschein einer perfekten Familie. Aber hinter der Fassade schlummert allerlei Beachtenswertes. Ihre Sorgen und Nöte berühren und die Leser fiebern mit, ob sie ihre Abenteuer unbeschadet überstehen. Und by the way diskutiert die Autorin die ganz normalen Konflikte einer Großfamilie, und reflektiert in ihren Abenteuern die kleinen und großen Themen des Lebens: Pubertät, Freundschaft, Vertrauen, Angst vor Anderen und Anderem. Die Mennyms müssen lernen, neue Wege zu gehen. Und auch die Angst vor dem Tod und ob es ein Danach gibt oder nicht wird thematisiert. Ernst, spannend, humorvoll und oft tiefgründig.
Carl-Hanser-Verlag München-Wien - 1996-1999 - Buch
1072
Zeh, Julie
Juli Zeh - Neujahr
Roman - gebundene Ausgabe
Juli Zeh - Neujahr
Julie Zeh, Jahrgang 1974, Jura-Studium, Studium des Europa- und Völkerrechts, ihr Debut-Roman „Adler und Engel“ wurde ein Welterfolg, ihre Romane sind bislang in 35 Sprachen übersetzt worden, sie erhielt diverse Literaturpreise und wurde zuletzt zur ehrenamtlichen Richterin am Landesverfassungsgericht Brandenburg ernannt.
Inhalt
Henning, ist Ehemann, zweifacher Vater, einer von den emanzipierten, der nicht pro forma für die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist, sondern versucht, dies auch im Alltag zu leben. D.h., die Eheleute praktizieren ein modernes Familienmodell, meint, sie kümmern sich beide um die Kinder, Beruf und Hausarbeit. Aber Henning geht es nicht gut, er fühlt sich überfordert mit den verschiedenen Rollen, die ihm dieses Modell abverlangt. Dieser Zustand permanenter Überforderung hat ihm Panikattacken und Versagensängste eingetragen. Bei einem Urlaub auf Lanzarote, den er selbst ausgesucht hat gegen den Wunsch seiner Frau, überfallen ihn seine Ängste immer wieder und stärker, obwohl er gerade gehofft hatte, sie durch diesen Urlaub zurückdrängen zu können. Auf einer Radtour ohne die Familie, die ihn über die Grenzen seiner körperlichen Fähigkeiten hinausführt, arbeitet er sich an seinen Ängsten, Wutgefühlen und Verletzungen ab, schreit seinen ganzen Frust aus sich heraus. Und plötzlich sieht er sich mit seiner Vergangenheit konfrontiert, mit Erinnerungen, die bis in seine Kindheit zurückreichen.
Bei Autoren, die vom Feuilleton hoch gelobt werden, bin ich immer etwas skeptisch. Viele Bücher werden vorgestellt, bei denen ich mich frage, was denn da so großartig sein soll. Dieses Buch wurde mir von einer Bekannten empfohlen. Es war ein guter Tipp. Julie Zeh hat es von Anfang an verstanden, mich für Henning zu interessieren. Was ist das für ein Typ, was sind seine Probleme, woher kommen die? Ist er nicht ein bisschen wehleidig? Frauen müssen das alles, von dem Henning überfordert ist, schon von jeher stemmen. Wo ist das Problem? Irgendwann dachte ich, na, wofür der sich alles verantwortlich fühlt – kein Wunder, dass es ihm schlecht geht. Ist das nicht ein bisschen viel? Wer erwartet eigentlich so viel von ihm? Hat das nicht etwas mit ihm selbst zu tun? Hat er nicht den Anspruch an sich, perfekt zu sein in seiner Rolle? Auch sein exzessives Radfahren – in was für einer Leistungsspirale steckt er? Seine Frau hat aufgegeben, ihm zu helfen. Henning könnte eine Karikatur des modernen Mannes sein, der in seinem Hamsterrad gefangen ist und den Ausgang nicht kennt.
Bis zur Mitte des Buches folgt man Henning auf seinem Weg zu sich selbst oder von sich weg – das ist nicht so klar. Und er wirkt dabei nicht wie eine Karikatur. Die Autorin macht sich nicht über ihn lustig. Ab der Mitte ändert sich auf einmal alles. Henning glaubt, die Landschaft oder Teile von ihr zu kennen. Er beginnt zu suchen in den Orten, aber auch in seiner Erinnerung. Und er wird fündig. Er bekommt eine Art Schlüssel für die Herkunft der Attacken. Und forscht weiter nach.
Fazit: Das Buch ist wie eine Studie über die permanente Überforderung bzw. über das Gefühl der Überforderung, hier am Beispiel eines Mannes. Und welche Rolle kindliche bzw. frühkindliche Erfahrungen haben, zumal, wenn sie nicht geklärt wurden. Dabei ist es einfühlsam und vor allem ab der Mitte spannend geschrieben. Julie Zeh verrät ihren Protagonisten nicht, sondern begleitet ihn freundlich, aber nicht unkritisch bei seiner Erinnerungssuche. Lesenswert.
Verlag Luchterhand München - 2018 - Buch
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